Rainer Beßling: Rede "Die gute Stube"

Rainer Beßling: Rede zur Ausstellung “Die gute Stube”
Rotes Kreuz Krankenhaus, Bremen, 12.9.2010

Karo – vermutlich ist das nicht der abgekürzte Vorname der hölzernen Frau mit Baby im Foyer. Das Design des Kleides dürfte hier Titel gebend gewesen sein. Das karierte Muster mit verschieden farbigen Feldern ist der erste Blickfang in Reinhard Osianders Doppel-Figur. Geradlinig geht‘s in der Struktur nicht zu. Grob und unregelmäßig sind die Schnitte ins Holz gebracht. Auch die Farbe haftet eher bruchstückhaft auf dem Grund.

Sicher haben wir es hier mit einer figürlichen Darstellung zu tun, schließlich genoss der Künstler seine Ausbildung in der Bremer Bildhauerschule. Auch kommt die Größe der Figur der Lebenswirklichkeit nahe, und in den Gesichtern könnten wir fast ein realistisches Porträt erkennen. Doch Erscheinung und Auftritt der Dame werden im Ganzen mit deutlichem bildhauerischem Eingriff übersetzt. Die Werkspuren sind sichtbar, von den Knien abwärts scheint mehr die Standfestigkeit als eine anatomische Ausformung das leitende bildnerische Kriterium gewesen zu sein. Auch das Kind, das die Frau auf dem Arm trägt, ist zu einer plumpen Plastizität stilisiert in seinem Strampler ähnlichen Dress. Und was heißt auf dem Arm tragen. Die vor dem Bauch übereinander gelegten Arme der – man kann vielleicht vermuten – Mutter fungieren eher als Sockel, der ja seinen festen Platz in der skulpturalen Praxis hat. Angeschmiegt ist das Kind nicht, eher buchstäblich aufgesetzt, die beiden sind mehr nebeneinander aufgestellt als zueinander gewandt.

Der Blick der beiden unterstreicht die Parallelität. Gleichgerichtet fixieren sie einen bestimmten Punkt, der offenbar weit entfernt liegt. Zugleich scheint ihre Aufmerksamkeit ganz nach innen gerichtet. Mit diesen Augen ist kein Kontakt aufzunehmen. Sie blicken am Betrachter vorbei. Sie suchen kein Gegenüber. Es bleibt offen, ob hier Erwartung im Blick liegt, Erstarrung oder Leere. So sehr man hier auch forschen und eindringen mag, es bleibt zu befürchten, dass das Geheimnis der beiden nicht gelüftet werden kann, dass die Starre nicht zu lösen, die Statik nicht zu animieren ist. Die Irritation, die von Osianders Figuren, aber auch von seinen Tieren, Landschaften, den Seestücken und Vorhängen ausgeht, ist weit größer als bei abstrakteren Formationen.

Zu Skulpturen haben wir einen besonderen Zugang. Körper im Raum nehmen wir viel direkter wahr als Bilder. Vor allem wenn es um eine menschliche Gestalt geht, selbst wenn Volumina, Linien oder Proportionen nur angedeutet sind, versuchen wir eine Verbindung aufzunehmen über die Position im Raum. Wir interpretieren Neigungen der Form als Haltungen, Posen und Gesten. Wir suchen das Eigene im Gegenüber, eine Spiegelung unserer physischen Präsenz. Wir koordinieren mit dem anderen Körper die Stellung im Raum. Wir versuchen, Abstand, Nähe, Attraktion oder Abwehr zu klären. Hier gelingt das kaum. Die Figuren behalten ihre Distanz, ihre Haltung trägt dazu bei, dass wir uns wie Eindringlinge fühlen und Zaungäste bleiben. Die Starre schirmt ab. Dabei identifizieren wir die Darstellungen und erkennen Situationen wieder. Wir überblenden die Skulpturen in unserer Vorstellung mit belebten Szenen, lassen die Vorhänge schwingen oder setzen das Wasser in Bewegung. Die Figuren schließen sich dieser Imagination aber nicht an, sie hüten ihre Rätsel.

Osiander stellt seine Protagonisten häufig in räumliche Situationen, die weniger einen konkreten Ort schildern als das physische Verhältnis der Figuren zum Raum. Dabei schwingen psychische Befindlichkeiten und die philosophische Reflexionen über Grundformen menschlicher Existenz mit. Auch die Raumattribute wie Wände, Nischen, Ecken und Böden verweisen auf die bildnerische Herkunft des Künstlers. In neueren Arbeiten verzichtet er auf solche greifbaren Abgrenzungen.

In dem großen Ensemble “Die Stube” deuten wenige Attribute auf konkrete Räumlichkeit nur hin. Die Figuren bringen ihre Lebenswelt praktisch mit. Der Titel lässt Wärme und Heimeligkeit assoziieren. Allerdings transportiert er auch die Skepsis mit, die sich gegenüber hermetischer Häuslichkeit allgemein etabliert hat. Die Familienaufstellung wirkt wie ein Familienfoto, steif und gezwungen. Das Material scheint Programm, die Protagonisten kommen hölzern daher. Das Elternpaar steht wie ein schützender Schirm hinter den Kindern. Eine Formation, die Rollenzuweisungen und Funktionen bedient. Sichtbaren Kontakt untereinander nehmen die vier nicht auf. Was sie verbindet, ist ihre uniform statische Haltung. Sie teilen ein Schicksal. Sie erscheinen ausgestellt, mehr als plastisches Abziehbild einer Lebensform, hingestellt und irgendwie auch abgestellt. Und wie im richtigen Familienporträt wissen sie kaum, wohin mit den Armen. Von oben nach unten sind die Figuren immer weniger ausgeformt. Wie angewurzelt stehen sie auf plumpen Beinen. Schockstarre, müde Sehnsucht, Erwartung? Vitalität sieht jedenfalls anders aus. Pulloveraufdrucke und -applikationen lesen sich wie Versatzstücke geborgter Identität. Diese Figuren sind imprägniert mit Vergangenheit und Sehnsucht. Ihre Identität scheint sich aus Erwartung zu speisen. Sie scheinen gelähmt und hypnotisiert von Vergangenheit und Zukunft. Deshalb besitzen sie keine Gegenwart, keine Präsenz, die den Raum belebt. Der Kunstraum wird von den Plastiken eher still gestellt, die Figuren, für die sie stehen, dürften auch ihren Lebensraum nicht füllen und bewegen. Sie scheinen darauf zu warten, dass etwas mit ihnen geschieht. So wenig sie untereinander und miteinander agieren, so wenig stellen sie Kontakt zum Betrachter her. Figuration und Situation sichern eine schnelle Kenntlichkeit, doch zugleich wird das Befremdliche umso deutlicher. Die vermeintliche Heimeligkeit der Stube ist vielfach gebrochen.

Osianders Protagonisten sind keine Akteure, sie tragen vielmehr Spuren. Es sind die Spuren des bildhauerischen Arbeitsprozesses, aber auch Lebensspuren. Gerade aus ihrer reibungsvollen schwebenden Existenz zwischen Schilderung und skulpturaler Setzung beziehen sie ihre innere Energie und suggestive Kraft. Die Ruhelage des Körpers steht im Spannungsverhältnis zur expressiven Oberfläche. Die fragmentarische farbliche Fassung durchkreuzt die Geschlossenheit der Aufstellung. Nicht Volumenspannung prägt den Raum, vielmehr wirft die Körperlichkeit die Frage nach der wirklichen Anwesenheit der Personen in ihrer Lebenswelt auf. Die knappe Unterlebensgröße macht das Ensemble zu einer Art Modell. Fragt sich, ob das Modell Stube empfehlenswert ist.