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  • Cowboy, Kasperl, Krokodil

    Cowboy, Kasperl, Krokodil

    Esche, bemalt
    180 x 150 x 140 cm (mehrteilig)
    2014

Cowboy, Kasperl, Krokodil

Esche, bemalt
180 x 150 x 140 cm (mehrteilig)
2014

Dr. Walter Lokau: Osianders schöne Bildwelt,
Volkskunst mit doppeltem Boden, im Buch “Schöne Dinge…unterwegs”, Band 3, 2019

Fast wäre er Keramiker geworden, der Holzbildhauer Reinhard Osiander. Heute ist er dem Schicksal dankbar für den gebrochenen Finger, der ihn hinderte, zur anderntags anberaumten Aufnahmeprüfung in der Keramikschule anzutreten. So entschied denn die parallel eingereichte Bewerbung an der Fachschule für Holzschnitzerei in Berchtesgaden über den weiteren Weg, dem der nicht nur vom Namen her barocke Bayer, geboren 1967 in Bobigen unweit Augsburgs, mit Freuden folgte: Der ungestalt nachgiebige Ton war ihm sowieso zu weich; hoch achtet er den gewachsenen Widerstand des Holzes, den er in seinen Arbeiten auch gar nie durch Perfektion zu überwinden sucht. Ob freistehende Figur, räumliches Arrangement oder hängendes Bildrelief und der mitunter kräftigen Acryl-Farbigkeit zum Trotz: Nirgends werden das eigenwillige Naturmaterial und die grobgeschnitzte Machart verhehlt. Sinntäuschender Naturalismus ist des stets figürlich Arbeitenden Sache nicht: Der gewandete Jäger im Walde, der lassoschwingende Cowboy, die Bilderbuch-Familie, der Drachentöter Georg, das Schaf, die Kuh, das Schwein, Hund wie Katz‘ und Vogelwelt, ja noch der talwärts stürzende Bach im Bergpanorama, der tretbootbetupfte Ausflugssee, die schlangenlinige Skipiste – alle bleiben sie im wörtlichsten Sinne unillusionistisch hölzern. Was freilich des Bildhauers Motiv-Stereotypen, die er alten Fotos und Postkarten, der volkstümlich-religiösen Kunst oder Kinderspielzeug entlehnt, keineswegs eindeutig oder bloß naiv macht: Osianders schöne Bildwelt besteht aus Zitaten reproduzierter Bilder.

Wie nicht wenige Absolventen der Berchtesgadener Schnitzschule zog es den jungen Holzschneider in die Kunst. Die Hochschule für Künste in Bremen ward dem Bilderseligen Studienort, die Hansestadt selbst Heimat. Aus der Akademie rührt das Reflektierte seiner Arbeiten, die er in Ausstellungen wie auf Märkten, vornehmlich in Bayern und am liebsten – aus familiären Gründen – um Augsburg zeigt. Dabei kennt der Bildende Künstler Berührungsängste mit dem Marktwesen nicht, im Gegenteil. Der Einsamkeit im Atelier zu entgehen ist das Arbeiten unter Kollegen auf Bildhauer-Symposien ihm so wichtig geworden wie der direkte Kontakt mit Kunden und Interessenten, auf deren Wünsche und Aufträge – Portraits oder Erinnerungsbilder – er gerne eingeht: Besonders auf Märkten wird anders, unverblümter gesprochen als auf Kunstausstellungen. Seit 2006 wächst alljährlich um ein weiteres Motiv die beliebte Menagerie an kleinen, geschnitzten und farbig gefaßten Tieren: Spielzeugskulpturen oder Skulpturenspielzeug? War es erst nur ein einsames Schaf, das, entnommen einer Weihnachtskrippe, die er seiner Mutter schnitzend zusammenstellte, in der Familie mehrfach gewünscht wurde, ist der Katalog inzwischen auf fast 20 typische Wesen aus Hof und Wald erweitert. Daß er nun oft für die Naturnähe seiner Kleintiere gelobt, ja ihm ein Leben mitsamt den ganzen Viechern unterstellt wird, nimmt Reinhard Osiander mit Schmunzeln: Ein jeder sehe halt, was er sehe. Auch wenn nur Bild zu Holz und Holz zum Bild wird.

Dr. Walter Lokau, Bremen

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Dr. Rainer Beßling: Reinhard Osiander. Flussziege. Gelsenkirchen 8.7.2018

Flussziege nennt Reinhard Osiander seine Arbeit, die er anlässlich des Skulpturenprojekts Kunst am Baum hier in den Berger Anlagen gefertigt hat und die ich Ihnen nun hier vorstellen darf. Ich weiß nicht, ob Sie mit dem Titel spontan etwas anfangen konnten und können. Flussziege, dickes Fragezeichen. Bergziege, ja, aber Flussziege, zweites dickes Fragezeichen. Ziege am oder auf dem Baum, auch eher merkwürdig. Und sieht hier eigentlich jemand eine Ziege? Vielleicht hat Sie der Titel ja zum Googlen animiert. Und da sind Sie unter Umständen fündig geworden. Für diejenigen, die auf entsprechende Einträge gestoßen sind, dürfte sich eine erheiternde Aufklärung eingestellt haben. Nicht zoologische Information wartet da auf wissensdurstige Nutzer, sondern ein Witz. Den mögen manche von Ihnen also jetzt kennen und auf die Skulptur von Reinhard Osiander beziehen können, alle anderen möchte ich noch ein wenig um Geduld bitten oder auf die Folter spannen, ganz wie man will. Der Witz, der den Titel der Skulptur äußerlich aufschlüsselt, kommt später. Er ist im übrigen ziemlich gut, wie ich finde… Ich möchte mich jetzt erst einmal auf anderem Wege der Skulptur nähern und dabei auch mit in den Blick nehmen, was sich Ihnen in der begleitenden Ausstellung zeigt. Da gibt es manche Brücken zu der Flussziege, zudem wirft die Schau zumindest ein kleines Schlaglicht auf das Werk des in Bremen lebenden und arbeitenden Bildhauers.

Kunst am Baum, ein schöner Projektname, die Assoziation zur Kunst am Bau und damit zur Kunst im Öffentlichen Raum ist in der sprachlichen Wendung angelegt. Im besten Fall gelingt es der Kunst im öffentlichen Raum, einen Ort mit einem gewohnten Alltagsgesicht ästhetisch neu beleben, entweder durch eine überraschend formale Wendung, oder durch ein Zeichen, das bestimmte vorzugsweise prekäre Inhalte aufruft oder Problemzonen markiert. Gelingen kann derartige Kunst immer dann am besten, wenn sich die inhaltliche Ebene über die Form darbietet, wenn sich unserem Blick ein Bild präsentiert, in dem wir eine Erzählung über unsere Welt und über uns selbst lesen können. Der Name dieses Projekts „Kunst am Baum“ führt schon ziemlich präzise zu dem, was Reinhard Osiander uns mit seiner spezifischen Arbeit hier präsentiert. Nicht nur technisch stofflich, sondern auch künstlerisch. Der Künstler ist hier an einem wunderschönen Ort, in einer Naturoase inmitten des Stadtraums auf eine naturgegebene Konstellation gestoßen, auf einen Baum, der sich schon ein wenig oberhalb der Wurzel gabelt und so ein Stammpaar ausgebildet hat, ein Zwillingspärchen, das eine Situation beschreibt, zu der uns gleich Assoziationen einfallen: Da sind Reiter im Relief, das ist ein Cowboy, der sein Lasso stolz und kunstvoll schwingt. Der Schwung der Handlung, die die bestaunenswerte Geschicklichkeit des Viehhüters bezeugen soll, erscheint seltsam erstarrt im Holz, dieser Bruch, dieser Riss, diese Verfestigung der Bewegung hat ihren eigenen Reiz, lässt ein wenig grotesken Humor und auch Ironie in die Szene einziehen.

Doch zurück zu dem Cowboy der Flussziege. Er trifft nun hier auf sein klassisches Gegenüber, den Indianer, und wir können uns fragen, welche Qualität diese Begegnung hat. Ist sie feindlich oder freundlich, offen oder voller Ressentiments – auch wenn hier Kindheitshelden und eher historische Kampfhähne auftreten, lassen sich an ihnen die heikelsten und bedrängendsten Fragen unserer Gegenwart verhandeln. Wie gehen wir in dieser anhaltenden postkolonialen Situation mit unserem Gegenüber um in einer globalen Welt, in der wir von den anderen und dem Anderen nicht nur nehmen dürfen, sondern auch zurückgeben müssen. Immerhin treffen sich in der „Flussziege“ die beiden auf Augenhöhe, das mag nur eine Formalie sein, aber sie spricht mit. Dann begegnen sich die beiden einzeln, die Ausgangsvoraussetzungen des Zusammentreffens scheinen also gleich zu sein, außerdem stoßen sie unbewaffnet aufeinander, was schon mal auf eine friedliche Grundabsicht und auf einen versöhnlichen Ausgang der Begegnung hindeuten könnte.

Vielleicht können Sie von hier aus erkennen, meine Damen und Herren, dass die beiden sich mit ihren Händen verständigen. Der Indianer streckt seinem Gegenüber den Zeigefinger entgegen bei hochgerecktem Daumen, der Cowboy formt Zeigefinger und Mittelfinger zu einem V-Zeichen. Verständigung, Verstehen, das bildet die Voraussetzung für ein gelingendes Zusammentreffen, für einen Austausch und konstruktiven Dialog. Aber wo gelingt das schon. Sprechen Merkel, Seehofer und Nahles die gleiche Sprache und müssen wir unser Verständnis des Wortes Koalition nach den Erfahrungen der vergangenen Woche nicht radikal überdenken? Vielen von uns wird die These und vielleicht auch die Erfahrung nicht fremd sein, dass sich schon innerhalb einer Familie das weibliche und das männliche Geschlecht kaum verstehen, weil sie über verschiedenen Zugänge zur Welt verfügen und mit verschiedenen Codes in der Verständigung operieren. Um wie viel dramatischer sind die Verhältnisse da im Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen. Und diese Begegnungen sind ja nicht symmetrisch, sondern machtbesetzt, interessengeleitet und herrschaftsorientiert. Das Zeit-Magazin dieser Woche beschäftigt sich mit Begrüßungsformeln. Schon interessant, wie vielfältig und unterschiedlich solche Formeln sein können. Babylonische Verwirrung muss sich nicht nur bei Turmbauten einstellen.

Cowboy und Indianer im Kinderzimmer und auf dem Spielplatz. Wie sorgfältig haben wir den Federschmuck gerichtet und das Pistolenhalfter zurechtgerückt. War uns bewusst, wie rücksichtslos die Weißen die angestammten Indianer in Nordamerika von ihrem Terrain vertrieben haben, wie sie ganze Stämme und Völker bestialisch ausgerottet haben, flankiert von einer Religion, die ihnen die meuchelnde Missionierung der Ungläubigen aufzutragen schien. Wie rücksichtslos diese weißen Migranten ihren neuen Überlebensort freigeräumt haben. Osiander hat in seine Ausstellung eine Gruppe von Ministranten gestellt, für seine bayrische Herkunft gehört auch das zur Signatur der Jugendzeit, und diese Sozialisierung hat bestimmt auch ihre guten Seiten. Ich möchte Ihnen überlassen, meine Damen und Herren, über die Rolle der Kirche in der Vergangenheit und Gegenwart selbst zu räsonnieren. Der Künstler gibt uns den Impuls, einen Kommentar liefert er selbst nicht. Aber wir dürfen in der strategisch naiven Art, in der die Messdiener hier auftreten, eine Haltung identifizieren, die sich in dem Beharren auf Tradition gefällt, und dieses Traditionsbewusstsein kann leicht in eine reaktionäre Haltung umschlagen, auf deren Gefahrenpotential gerade aktuell das Oberhaupt der katholischen Kirche hingewiesen hat.

Zu den Ministranten tritt in der Ausstellung noch ein anderes Stück, mit dem nun vollends die vermeintliche Idylle des Kinderzimmers vergangener Zeiten konterkariert wird. Osiander hat ein Kriegsschiff in Holz geschnitten, für das er eine gleichfalls hölzerne Vorlage auf dem Flohmarkt gefunden hat. Schon diesem Flohmarktfund war abzulesen, mit wie viel Liebe hier das militärische Gerät in Form gebracht wurde. Für Deutschland als führender Hersteller von Rüstungsgütern, für Bremen als Werftenstandort gehört sich das ja auch so. Diese Kriegsschiff erscheint nur einer merkwürdigen Doppelgestalt, in einfacher Handwerklichkeit und als Repräsentant avancierten Hightechs, als Ikone der Ingenieurskunst und als Gabe eines liebenden Vaters an sein Kind oder als Materialisierung des sich auf die maritime Gefechtsstation fantasierenden Kindes. Osianders Arbeiten besitzen eine Direktheit, die in ihrer äußeren Erscheinungsform und ersten Wirkung an Naivität im Sinne von Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Unverfälschtheit, die an eine Art Natürlichkeit denken lassen, die durch das Holz und durch die Art seiner Bearbeitung verstärkt wird. Doch die vermeintlich Naivität ist eine vorgeführte, eine reflektierte, die mit Rissen und Ambivalenten arbeitet. Sie entlarvt eine vermeintliche Selbstverständlichkeit, die in der Konstellation Kriegsgerät im Kinderzimmer steckt. Besser noch, diese Selbstverständlichkeit entblößt sich selbst. Sie öffnet die Abgründe im Traditionellen. Sie wirft uns auch unseren eigenen Blick zurück, so harmlos und niedlich wir diese hölzernen Widergänger einer Kriegsflotte empfinden mögen, sie sind gerade deshalb gefährliche Relikte eines imperialen Bewusstseins, weil die imperiale Realität noch Bestand hat. Was wir gerne ins Museum stellen möchten, ist aktuelle Wirklichkeit. Gewalt tritt heute nur anders auf. Aim-Controller nennen die Gamer der Ego-Shooter-Spiele diese Flinte im IPod-Design, mit der sie nun Aliens und andere vermeintliche Aggressoren ins Visier nehmen dürfen. Ich will hier keine Debatte über Gewalt in der virtuellen Realität und deren Folgen für die erste Wirklichkeit anzetteln. Mir scheint aber, dass der Zugang zu diesem Problemkomplex über Osianders analoge Welt eine andere Wirkung besitzt. Er hilft uns noch mehr, hinter die Fassaden des Heilen blicken zu lassen. Die Skulpturen des Bremers nehmen uns mit in eine Holzwelt, die von gestern erzählt und damit doch genau auch ins Heute trifft. Der Bildhauer ist in einem künstlerischen Feld unterwegs, das aus dem aktuellen Diskurs herauszufallen scheint, mit dem sich aber auf eine sinnliche und hintergründige Weise brennende und aktuelle Themen verhandeln lassen. Seine Flussziege wurzelt im wahrsten Sinne des Wortes in unserer Alltagswelt und transzendierte diese in eine künstlerische Region, wobei das Aufeinandertreffen dieser beiden Bezirke ganz direkt sichtbar bleibt. Ein Bild mit allegorischem Charakter ist aus dem Stoff, der in sich schon Symbolwert trägt, herausgeschält. Naturbild und künstlerische Form spielen zusammen. Und nicht zuletzt, und damit möchte ich nun endlich zum versprochenen Witz kommen, tun sie dies auf eine humorvolle Weise, ohne sich in hochfahrender Ambitioniertheit zu gefallen, mit einem Werkstoff, der die nicht nur künstlerische Entwicklung des Menschen von Beginn an begleitet und der von den alten und bleibend aktuellen Problemen und Schwächen des Menschen spricht, angenehm unaufgeregt, aber unüberhörbar.

Trifft ein Indianer einen Cowboy in der Prärie. Macht der Indianer so (gestreckter Finger mit gerecktem Daumen auf den Cowboy zeigend), macht der Cowboy so (V-Zeichen), macht der Indianer so (formt mit den Händen ein Dach), macht der Cowboy so (mit der Hand eine schlängelnde Bewegung nach vorn). Kommt der Cowboy in einen Saloon und erzählt seinen Kumpels. Ich habe heute einen Indianer in der Prärie getroffen, dem hab ichʻs aber gezeigt. Er sagt zu mir: Ich erschieß dich. Ich zu ihm: Bevor du mich erschießt, gebʻ ich dir zwei Kugeln. Sagt er: Bitte tu mir nichts, ich geh in mein Wigwam. Sag ich: Schleich dich!. Kommt der Indianer nach Hause und sagt zu seiner Squaw: Ich hab heute einen Cowboy getroffen, der war vielleicht balla-balla. Ich sag zu ihm: Wer bist du? Sagt er: Eine Ziege. Frage ich: Eine Bergziege? Darauf er: Nee, eine Flussziege.

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Dr. Rainer Beßling: vom Holz
Einführungsrede am 11.3.2018, Palais Rastede

Die Holzbildhauerei zählt zu den ältesten künstlerischen Techniken. Sie fußt auf einem Material, das Menschen aller Kulturen seit Anbeginn ihrer Geschichte begleitet. In ihm wächst uns auch ästhetisch etwas Ursprüngliches zu. Nicht zufällig rückte das Holz zu Anfang des 20. Jahrhunderts wieder in den Fokus der Künstler, als die Rückkehr zu den Urgründen der Kunst und eine expressive Unmittelbarkeit ihre Arbeit bestimmten. Aber auch heute, das zeigt diese Ausstellung mit ihrem weiten Spektrum an Ausdrucksweisen, haben der Werkstoff und die mit ihm verbundenen Ausmessungen menschlicher Figuration und Auslotungen menschlicher Existenz nichts von ihrer Kraft verloren. Vielleicht berührt uns in Zeiten digitaler Herrschaft die Stofflichkeit des ästhetisch geformten Holzes sogar noch mehr, als ein Hauch von Exotik und Archaik vor der eigenen Tür. Gerade in den Randbezirken des Figürlichen, auf den Schwellen zur Abstraktion und Stilisierung entwickelt Holzbildhauerei mit zeitgenössischen Bildsprachen, Menschen- und Weltbildern eine vitale Wirkung – was ich an den einzelnen Positionen nun erläutern möchte. Der Vollständigkeit halber seit erwähnt, dass es auch einige Bronzen in die Ausstellung geschafft haben. Sie wurzeln in den Holzarbeiten und fügen sich ein.

Ulrike Gölner hat sich bei der Auswahl der Exponate vom Ausstellungsraum inspirieren lassen – für ein Kontrastprogramm. Dem dekorreichen Ambiente setzt sie strenge Formen entgegen. Zugleich inspirierte sie das ehemalige Wohngebäude zur Präsentation von Skulpturen, die bei aller Nähe zu pflanzlichen Gebilden an menschliche Gestalten denken lassen. „Figuren“ lautet denn auch der Titel ihrer Werkgruppe aus Holz und einer Bronze. Sie lässt damit klare Körperlichkeit in ein heimeliges Interieur einziehen. Ein Schauspiel aus abstrahierten Bewegungen und bildhauerischen Setzungen eröffnet sich vor unseren Augen. Vertikale Ausrichtung und diagonale Ausbuchtung großer stelenartiger Gebilde summieren sich zu einer kurvigen Choreographie. Die Protagonisten dieses Ensembles scheinen sich zu positionieren und zu kommunizieren. Das eine spiegelt das Andere und bricht sich im Gegenüber. Erst in der Gruppe bilden sich Identitäten aus. Vereinzelung und Gemeinschaft sprechen zugleich aus diesem Kreis. Und auch wir selbst verhalten uns dazu, umrunden die Figuren, suchen verschiedene Standorte und Blickwinkel, treten ihnen näher oder einen Schritt zurück. Dabei ereignet sich etwas Fundamentales: Wenn wir auf eine körperliche oder körperähnliche Erscheinung treffen, gleichen wir spontan Daten ab, die Größe, die Proportionen, die Entfernung. Wir nehmen selbst im Raum eine Position zu den plastischen Platzierungen ein. Wir beleben mit unserer Wahrnehmung die schon selbst dynamischen Figuren weiter.
Nicht zuletzt die Kopfstücke von Ulrike Gölners Figurinen lassen uns an eine menschliche Gestalt denken. Zugleich aber sind Herkunft und der Ursprung der Stämme aus einem kleinen Eichenwäldchen noch erkennbar, in dem die einzelnen Bäume dicht an dicht standen und auf ihrem Weg zum Licht ihre kurvige Gestalt ausbildeten. Der bogenförmige Verlauf bringt Regung in die Skulptur. Statik und Dynamik begegnen und durchdringen sich. Wir sehen Neigungen wie ein sanftes Nicken, Biegungen wie die Andeutung einer Rumpfbeuge. Ganz offenbar bedarf es nur weniger Linien und Volumina, um bei uns die Vorstellung bewegter Körperlichkeit zu wecken. Das Anregende an Ulrike Gölners plastischer Sprache ist, dass sie die Anspielungen an die menschliche Figur nicht ausformuliert, sondern lediglich suggestiv anstößt, in uns weiter reifen lässt. Die Künstlerin geht von formalen Erwägungen aus und entfaltet daraus eine Figuration. Sie bildet nicht ab, sondern bildet aus. Spannend ist auch, dass mit der Reduktion der Formensprache keine Einengung einhergeht, sondern eine Ausdehnung der Assoziationen. Je abstrakter die Form auftritt, desto weiter scheinen die Möglichkeiten erzählerischer Anlagerungen zu streuen. Gleichzeitig stellt die Reduktion und formale Klärung eine Verdichtung dar. Wir stehen nicht einer Vielzahl von Attributen gegenüber, sondern sind mit einem Kern von Körperlichkeit konfrontiert.

Hier schlägt sich der Werkprozess nieder, der Zugriff der Künstlerin auf einen Stamm, dessen Wuchs in ihr schon eine bestimmte Formvorstellung hervorgerufen hat und eine Idee vom Wesen der Figuren. In dieser reduzierten Form erscheint Organisches, keimhaft Pflanzliches, wie auch figürlich Zeichenhaftes: der Mensch hineingeworfen in sein Dasein, konkretisiert auf den Kern seines Seins. In uns werden durch die Begegnung mit diesen beschwörenden Stelen Empfindungen wie Empathie oder Mitgefühl geweckt. Vielleicht identifizieren wir uns mit der einen oder anderen Haltung oder erkennen sogar uns bekannte Wesen wieder. Ulrike Gölners Figuren verdanken ihre Vielschichtigkeit ihrer klaren Formgebung und der Mitsprache des Materials, dem Vexierspiel zwischen Wuchs und Wesen, zwischen Dynamik und Statik. Der Stoff spielt in die Form hinein und die Form weist ins Figürliche. Es entsteht eine bruchlose Schönheit, von der wir uns magisch angezogen fühlen, ein sanfter, harmonischer Schwung, ein ausgewogener Rhythmus, eine schmeichelnde Präsenz. Die Figuren sind abstrakte Form und Gleichnis von körperlicher Befindlichkeit auf gleicher Höhe.

Schnitt: Klaus Hacks figurative Konstrukte besitzen Elemente mythologischer Artefakte und surrealistischer Kombinatorik. Sie liegen in ihrer expressiven Bildsprache zwischen den Motivgattungen, verschmelzen Körperliches mit Dinghaftem, Naturhaftes mit Architektonischem. Leibliche und gegenständliche Elemente verwachsen mit kubischen Grundformen. Die hybriden Figuren erscheinen eingebettet in geometrische Konstrukte, verweben sich, halten sich an oder werden gehalten von Mobiliar oder Gerüst. Sie erscheinen hineingebaut in merkwürdige Gerätschaften, in riesenhafte turmgleiche Kleidung als zweiter Hülle und schützender Behausung. So bilden sich anschauungsmächtig und kraftvoll präsent Wesen aus, die sinnbildlich erschlossen werden wollen und mehrbödig bleiben. Mit einer „Fährfrau“ greift der Künstler in archaisch reduzierter Form das reich befrachtete Bild einer schicksalsträchtigen Wasser-Passage auf, eines Transports, der als Übergang zwischen verschiedenen Welten oder Existenzweisen gesehen werden kann. Die Körperform ist kubisch angedeutet, besitzt Nähe zu kultischen Figurationen und bleibt inhaltlich offen. Ein „Schreikleid“ genanntes Objekt zeigt eine Person auf einem Hockerturm in exponierter Lage, aber nicht unbedingt festem Stand, ein mögliches Sinnbild für eine emotionale Ausnahmesituation, erregt und gefährdet, extrovertiert und ausgeliefert in gleicher Weise.

Oft noch wie verbunden mit dem ursprünglichen Gehölz treten die plastischen Gebilde organisch und konstruktiv zugleich auf, vielgliedrig und vielschichtig. Sie erscheinen ebenso aus dem Stoff herausgewachsen
wie dezidiert strukturell entwickelt, in einer seriellen Grundformensprache, rasterhaft, gitter- oder wabenartig mit zeichenhafter Anlagerung und ornamentalen Seiten. Sie wirken kantig und filigran detailreich zugleich. Die grafisch bewegte Oberfläche samt der Struktur des Holzes wird durch eine weiße Fassung eingeebnet, vereinheitlicht und beruhigt, eine Anmutung von Haut und Schleier in einem. Eine Aura der Künstlichkeit vermengt sich mit stofflicher Ursprünglichkeit. Dazu treten Bearbeitungsspuren, die für eine dynamische, energiereiche Oberfläche sorgen. Zu den häufig auftretenden und variierten Formation Klaus Hacks gehören Turmbauten. Schon im Titel schafft der Bildhauer eine Brücke zur biblischen Erzählung über die antike Stadt Babel, die von bildhafter Gültigkeit für unsere Gegenwart der wachsenden Millionenstädte und technischen Gigantomanie ist. Zu dieser Werkgruppe lässt sich auch die Arbeit Metropolis zählen. Eine Ansammlung von käfigartigen oder wabenförmigen Behausungen zeigt die Metropole als wuchernden Moloch. Die polymorphe Konstruktion besitzt Züge eines ausgreifenden Körpers mit Kopf, Rumpf und Gliedmaßen und einer figurativen Pose.

Urbanität und Organismus vereinen sich miniaturisiert und modellhaft zu einer prekären Statik, welche die Hybris menschlicher Architekturen und Projekte ausweist. Das Gebilde scheint seinen Architekten und Planern über den Kopf gewachsen zu sein, eine Eigendynamik zu entwickeln, die Raum greift und Raum frisst, die ihre Bewohner einzuschließen und zu verschlingen droht, die den Menschen hinter seine Behausung zurücktreten lässt und ihn einpfercht in eine normierte Masse. Ein Organismus nach eigenem Plan ist geboren, weniger Konstrukt als pochender Körper. Kopf, Rumpf und Arme tragen verschiedene Geschosse. Der Gebäudekörper gleicht einer tierischen Zusammenballung, der Stammbildung von Insekten, deren Einzelexistenz ganz in den Dienst der Masse gestellt ist. Detail und Ganzes spielen formal zusammen und vermitteln den Eindruck von Proportionen und Größen, die über das menschliche Maß hinausreichen. Mehr als funktionell scheint das Ganze schicksalhaft verschränkt zu sein, zum Zusammenleben und Wachsen verdammt. Eine Kreuzform oben besitzt Konturen eines Aussichtsturms oder der Kabine eines Schiffes. Die Assoziation an einen Schiffskörper drängt sich auf, an ein Schiff auf hoher See, wobei das Schiff als Metapher eines Lebenswegs gelesen werden könnte, ein universelles Bild für eine Passage durch vielfach mit Gefährdungen befrachtetes Gebiet..

Der nächste Schwenk: Reinhard Osiander präsentiert uns vertraute Szenen und Figuren, scheinbar leicht erkennbare und entschlüsselbare Bilder aus dem häuslichen oder familiären Leben, aus der heimeligen Stube oder vom Ausflug auf dem Lande. Er führt uns Erinnerungsmomente vor: Porträts, Interieurs, Landschaften, Spielsachen, Medienfiguren, Mobiliar. Trotz ihres wenig verschlüsselten oder stilisierten Auftritts erscheinen sie nicht wie unmittelbare Wahrnehmungsfunde. Als Foto oder Gemälde oder im Film hätten sie ihren angestammten Platz und würden von uns reibungslos angenommen und abgebucht. Als bildhauerische Stücke im Holz aber erscheinen sie verschoben, gerade ihre Nähe zur Bildrealität oder besser ihr realistischer Nachbau lassen sie im wahrsten Sinne merkwürdig und als artifiziell erscheinen.

Wenn das Bild eines Vorhangs am Fenster in Holz vor unser Auge rückt, wenn die wehenden Tuchbahnen als modellierte Miniatur aus Ästen auftauchen, gewinnen sie greifbare Präsenz als Insignien von Häuslichkeit und fremde Stofflichkeit zugleich. Sie wirken übersetzt in eine ungewöhnliche Gattung und zeigen sich selbst als Produkte mehrfacher Vermittlung, als Transportmaterial der Erinnerungskanäle und Gedächtnisspeicher, die ihre Güter für gewöhnlich kräftig durchrütteln und aufmischen, die auslesen und hinzufügen.

Mit dem grob-kräftigen bildhauerischen Zugriff auf den Werkstoff Holz rückt der Künstler das Naheliegende in fernere Bezirke. Als Skulptur oder Relief erscheinen uns die Wesen und Objekte fremder. Ihre Identifizierung als Vorhang oder Laub beruhigt uns nicht, lässt uns sie nicht identifizieren und gibt uns keine Orientierung, sondern irritiert und erregt mit einer tendenziellen Fremdheit umso mehr unsere Aufmerksamkeit. Laub gewinnt als hölzernes Relief eine zutiefst merkwürdige Anmutung. Das Leichte, das flirrend Bewegliche, die luftige Stofflichkeit verwandeln sich in dichte Schwere, die auch durch die Bemalung nichts von ihrer Physis und Konsistenz verliert. Es ist, als wolle die Statik Dynamik spielen oder umgekehrt, Imagination verfängt sich in der Materialität, ein gleichermaßen verunsicherndes wie faszinierendes Schauspiel, bei dem die Bühne zum Relief oder zur Skulptur wird. Gebrauchte oder verbrauchte Bilder werden so gerade über ihre Festigkeit zu neuem Leben erweckt. Die einst mit ihnen verbundene Ursprünglichkeit und Anschaulichkeit werden neu entfacht.

Kasperl, Krokodil, Cowboy, das sind Figuren aus frühen analogen Kindertagen, als noch nicht Smartphone und Tablet als Fenster zur Welt fungierten, als die Protagonisten auf den Marionettenbühnen noch handlich gefertigt und handish geführt wurden. Wer bewegte die Puppen damals? Wen erschreckten, belustigten sie in früheren Zeiten, wer fieberte mit, wer ließ sich verführen? Können wir uns heute noch in diese Fantasiehelden hineinversetzen? Wie der hölzerne Teil der Handpuppen treten sie hier auf, monumentalisiert, so groß wie sie in der Wahrnehmung der Kinder vielleicht erschienen sind, so greifbar stofflich wie kein Bildschirmwesen es je erreichen wird, und dabei doch so unwirklich, als grüßten sie aus einer fremden, längst untergegangenen Welt. So wie es sich jetzt darstellt wirkt das Ensemble aus Kindertagen nicht nur monumental verschoben als Erinnerungsstück, sondern auch befremdlich wie geköpft, das Haupt brutal vom Rumpf getrennt. So bekommen einen Ausschnittcharakter, erscheinen als Fragmente, sind Versatzstücke einer unklaren, nur noch schemen- und ausschnitthaft weiter lebenden Wirklichkeit. Der Betrachter muss sie ergänzen, einbetten in ihren Spielzusammenhang einbetten in ihren historischen Kontext, dabei lagert er ihnen subjektive, individuelle Assoziationen an, rückt sie in die heutige Zeit, in unseren heutigen Wahrnehmungszusammenhang. Das Holz und dessen Verarbeitung verleiht ihnen vergröberte Züge und doch ist alles real an ihnen.

In dem großen Ensemble „Die Stube“ deuten wenige Attribute auf konkrete Räumlichkeit nur hin. Die Figuren bringen ihre Lebenswelt praktisch mit. Der Titel lässt Wärme und Heimeligkeit assoziieren. Allerdings transportiert er auch die Skepsis mit, die sich gegenüber hermetischer Häuslichkeit allgemein etabliert hat. Die Familienaufstellung wirkt wie ein Familienfoto, steif und gezwungen. Das Material scheint Programm, die Protagonisten kommen hölzern daher. Das Elternpaar steht wie ein schützender Schirm hinter den Kindern. Eine Formation, die Rollenzuweisungen und Funktionen bedient. Sichtbaren Kontakt untereinander nehmen die vier nicht auf. Was sie verbindet, ist ihre uniform statische Haltung. Sie teilen ein Schicksal. Sie erscheinen ausgestellt, mehr als plastisches Abziehbild einer Lebensform, hingestellt und irgendwie auch abgestellt. Und wie im richtigen Familienporträt wissen sie kaum, wohin mit den Armen. Von oben nach unten sind die Figuren immer weniger ausgeformt. Wie angewurzelt stehen sie auf plumpen Beinen. Schockstarre, müde Sehnsucht, Erwartung? Vitalität sieht jedenfalls anders aus. Pulloveraufdrucke und -applikationen lesen sich wie Versatzstücke geborgter Identität. Diese Figuren sind imprägniert mit Vergangenheit und Sehnsucht. Ihre Identität scheint sich aus Erwartung zu speisen. Sie scheinen gelähmt und hypnotisiert von Vergangenheit und Zukunft. Deshalb besitzen sie keine Gegenwart, keine Präsenz, die den Raum belebt. Der Kunstraum wird von den Plastiken eher still gestellt, die Figuren, für die sie stehen, dürften auch ihren Lebensraum nicht füllen und bewegen. Sie scheinen darauf zu warten, dass etwas mit ihnen geschieht.
Osianders Protagonisten sind keine Akteure, sie tragen vielmehr Spuren. Es sind die Spuren des bildhauerischen Arbeitsprozesses, aber auch Lebensspuren. Gerade aus ihrer reibungsvollen schwebenden Existenz zwischen Schilderung und skulpturaler Setzung beziehen sie ihre verstörende Energie und Kraft.

Nun zu Ilka Rautenstrauch: Ein Junge sitzt ruhig auf einem Hocker, die Füße in der Luft, die übergroßen Hände aufgestützt. Er erscheint in sich gekehrt und verschlossen. Fixiert er etwas im Raum oder geht sein Blick ins Leere? Worum kreisen seine Gedanken? Die Gesichtszüge sind fest und weich zugleich, sicher und sparsam. Der Junge scheint versunken und doch spürt man eine Spannung in seinem Körper, als sei er gerade dabei sich aufzurichten oder als befinde er sich auf dem Sprung, als sei er auf der Hut. Dynamik und Statik bilden einen energiereichen Kontrast. Die Spannung setzt sich fort in unserer Betrachtung der Figur. Wir können seinen Blick nicht einfangen, er schaut an uns vorbei. Dabei wirkt er ganz gegenwärtig. Er ist präsent und abwesend. Wir registrieren seine ausgeformte Körperlichkeit, dabei besitzt er eine fast immaterielle Zartheit.

Wir sehen den Gegensatz zwischen der fein gearbeiteten Körperoberfläche und dem groben Hocker, der den Feinschliff noch stärker empfinden lässt. Die Haut ist verblüffend glatt, fragil wie Porzellan in ihrer scheuen Blässe. Haut und Pose verbinden sich zu einer starken Stille, die uns selbst in eine kontemplative Haltung versetzt. Die Figur erscheint erhaben und stilisiert. Sie irritiert mit ihren anatomischen Verschiebungen. Sie erstaunt und fasziniert in ihrer rätselhaften Künstlichkeit und doch wirkt der Junge auch ganz real in Haltung und Ausdruck, mit seinen realistisch ausgeformten Schuhen, dem fein gelegten Haar und den natürlich wirkenden Knien, über denen sich die Haut in der Beugung spannt.

Ilka Rautenstrauchs Figuren kommen uns auf eine berührende Weise nahe, bewegen uns in ihrer Stille, lassen uns in ihrer festen und gleichzeitig zurückgenommenen Selbstgenügsamkeit allein mit unseren Fragen und Vermutungen. Sie erscheinen uns fremd und doch wirken ihre Haltung und ihr Ausdruck vertraut. So oder ähnlich ist uns vielleicht schon mal ein Mensch begegnet, aber erst indem er zum kunstvollen Bild wird, registrieren wir seine Eigenarten und Besonderheiten. Diese Figuren sind zugleich Porträt und Prototyp, individuell und allgemein, eine merkwürdige Spezies mit einer seltsamen Exotik, obwohl sie alle unsere Merkmale trägt. Verfremdet, um uns darüber nachdenken zu lassen, was ihr Menschsein eigentlich ausmacht und wo es beginnt, so einzig und allein und so einsam wie sie wirken. Und sie lassen uns darauf schauen und darüber nachdenken, was den menschlichen Körper kennzeichnet, dessen faszinierende Einmaligkeit, die ihrem Träger Persönlichkeit verleiht und die uns doch alle in ihrer Mischung aus Schutzlosigkeit und Darbietung, aus Verhüllen und Verbergen vereint.

Die Künstlerin bearbeitet das Holz in einer verblüffenden Weise, es tritt uns leiblich gegenüber, nicht in fleischlicher Körperlichkeit, sondern empfindlich und empfindsam, wie durchlässig und durchlichtet, sakralen mittelalterlichen Figuren ähnlich, die in ihrer Aura erstrahlen, als wären sie schon in eine vergeistigte Sphäre gehoben.

Doch Ilka Rautenstrauchs Figuren sind auch ganz erdnah, ruhen auch im Material, dem organischen Holz, das ihnen eine stille innere Lebendigkeit einpflanzt, wachsen aus dem Werkprozess, indem minimale Formungen eine maximale Ausdruckskraft hervorbringen, die sich nicht vollends kontrollieren lässt. Die Figuren führen ihr stilles, zurückgezogenes Eigenleben und wecken in uns eine sorgsame Hinwendung, die ihre individuelle Leiblichkeit als ein schützenswertes Gut anerkennt, die uns Grenzen und Schnittmengen körperlicher Begegnung deutlicher macht. Was sagen uns die anatomischen Besonderheiten, die tief angesetzten Ohren, die großen Gliedmaßen, die einzelne Brust?

Sie markieren Eigenart, rufen uns auf Besonderheiten zuzulassen, sie fordern heraus die Körperformen, denen die Künstlerin mit spezifisch formalem Interesse am menschlichen Körper aufmerksam und respektvoll nachspürt, als Selbstverständlichkeiten anzuerkennen. Wir könnten uns mit unserer angefachten und zurückgewiesenen Neugier am Körperlichen zu vorurteilsloser Empathie aufschwingen, indem wir nicht zuletzt den kunstvollen Bau der Menschenwesen bewundern, zu dem die Bildhauerin in ihrer speziellen, zugleich historischen und ganz gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Holz gelangt ist.

Nun zur letzten Position: Auch in Lothar Serusets Werk aus Skulpturen und Holzdrucken steht der Mensch im Mittelpunkt, buchstäblich, in mehrfacher Hinsicht und in schillernder Weise. Seruset lässt den Menschen zumeist aufrecht posieren, komplette Figuren, in Säulenform, so treten sie dem Betrachter gegenüber, farbig gefasst, in standfester Frontalität, eingebunden in Attribute. Der aufrechte Gang weist den Menschen als vermeintliches Spitzenprodukt der Evolution aus. Aber ist er auch innerlich gewachsen, befindet er sich auch geistig, moralisch auf der Höhe? Der Mensch bekommt bei Seruset häufig einen Soloauftritt ohne flankierende Artgenossen, ohne Gruppenbindung und -bildung. Das lässt ihn schicksalhaft in seiner existentiellen Rolle auftreten, mit den Herausforderungen an das einsame Individuum. Dennoch steht er uns nicht allein gegenüber. Er führt Dinge mit sich, tritt zusammen mit Tieren auf, trägt Natur oder Architektur auf dem Kopf oder in den Händen, ist damit eingebunden in allegorische Zusammenhänge, in Sinnbilder mit mehreren Bedeutungsebenen, die nicht einförmig zu lesen sind, sondern offen bleiben in ihrer Symbolik.

So trägt ein Mann mit einer Krone auf dem Kopf einen Fisch in der Hand vor seinem Körper, er scheint trotz majestätischer Zeichen ein wenig verlegen, vielleicht sogar überfordert mit seinem Fang oder seiner Gabe, ein ruhiges starkes Bild mit vielschichtig sprechenden Zeichen. Wer hat den Menschen gekrönt? Hat er sich selbst zum Regenten über die Tierwelt oder gleich die ganze Welt, über Erde und Meere aufgeschwungen, wie es ihm die Bibel aufträgt? Weist ihn allein das Geschenk des Lebens als König aus? Oder ist der Fisch als Erkennungszeichen des Christentums zu lesen, lebt der mit universeller Verantwortung beauftragte König also seine Religion in der Gemeinschaft mit allen Lebewesen? Steht der Fisch für die Grundspeise des Menschen? Oder lässt sich die Allegorie auch als Verweis auf den Raubbau der sogenannten zivilisierten Welt an den Ozeanen deuten? Seruset hält den Bedeutungs- und Assoziationshorizont weit, seine Skulptur in ihrem Werkstoff und in ihrer Form wirkt archaisch, ganz ursprünglich, wurzelt in alten Erzählungen und Mythen und berührt doch ganz gegenwärtig.

Dass der Mensch bei Seruset im Mittelpunkt steht, auch formal als Zentrum des skulpturalen Aufbaus, impliziert, dass er eingebunden ist in einen Daseinszusammenhang, in Räume und Zeiten, dass er zwischen anderen Lebewesen und Daseinsweisen steht, dass er einen Ort in einem größeren Kosmos besetzt. Der Bildhauer reicht die Frage an uns weiter: Wie nimmt der Mensch diesen Platz ein: souverän oder labil, getrieben oder souverän, verantwortungsvoll oder fahrlässig? Häufig erscheinen die Protagonisten, die zwischen Akteur und Schicksalsträger oszillieren, bedrängt in diesem Kosmos, eingepfercht, tendenziell überfordert mit ihren Lasten, auf schwankenden Böden oder förmlich attackiert von den Dingen um sie herum. Allein und aufrecht könnte er als Höhepunkt der Schöpfung wirken, aber obwohl seine Position auf großen Füßen sicher steht, erscheint sein Stand doch prekär, seine stille und starre Statik schwankend. Er tritt meist mit nackten Füßen auf, er wirkt wie ein Zeitgenosse und scheint doch auch aus der Zeit gefallen, er ist klobig, plump, mit groben und großen Gliedmaßen, mit kantigen unbewegten Gesichtszügen. Das lässt ihn zupackend wirken, eher körperlich als geistig, irgendwo auf einer frühen Entwicklungsstufe, eher ein bäuerischer Mensch oder ein handwerklicher homo faber. Zusammen mit der Anmutung des grob behandelten Werkstoffs Holz wirkt er eher vorzivilisatorisch, das rückt Serusets Figuren in die Nähe von Kultgegenständen oder frühen sakralen Idolen.

Auf Totenköpfen stehend und Totenschädel auf dem eigenen Kopf tragend, ist der Mensch eingebunden in den ewigen Zyklus von Vergehen und Werden. Zugleich ist der Bronze-Skulptur anzusehen, dass der Mensch schwer an dieser Last trägt, dass er die Menge des Todes auf seinem Haupt kaum zu schultern vermag, denn wie lebt es sich zwischen allzeit präsenten Gebeinen, wie viele Menschen liegen hinter ihm, wie viele werden ihm in diesem Schicksal folgen? In welchem Verhältnis steht die Zahl der Toten zu der der Lebenden. Wie steht es sich auf den vielen Schädeln? Sind sie zivilisatorischer Humus oder Bürde? Sie könnten eine Chiffre für historische menschliche Gedankenleistung und damit fruchtbare Tradition sein oder einfach ein Beleg für die Endlichkeit des Fleisches und damit auch für die Relativität des geistigen Vermögens. Wir könnten sie als eine Relativierung der Individualität verstehen, da sie als pure Knochen wenig von vermeintlicher Einzigartigkeit verraten. Drückt diese Last den Menschen, wirft ihn der kippelige Knochenhaufen nicht aus seiner erhabenen Vertikalität? Oder lässt ihn der Anblick oder besser das Bewusstsein der Toten um ihn herum demütiger werden, vielleicht sogar ruhiger, weil sich ihm mit dem Tod die Freisetzung aus allen irdischen existentiellen Lasten andeutet?

In dieser Ausstellung sind bildhauerische Positionen versammelt, die uns in bezwingender Weise körperhaft ansprechen. An keiner können wir ungerührt vorbeisehen und unbetroffen vorbeigehen. Wir bleiben vor ihnen stehen, weil sie unseren Blick erwidern, weil sie uns das menschliche Dasein in seiner Form und in seinem Wesen stofflich direkt und bildlich vermittelt vor Augen halten. So wie wir sie umrunden, umkreisen sie die menschliche Figur in deren anmutigem Potenzial, aber auch in deren leiblicher Wirklichkeit von vielen Seiten. Wir sehen uns mit der Individualität des anderen konfrontiert und zugleich mit unserem eigenen subjektiven Blick. Wir verfangen uns in unseren vorgefertigten Bildern oder lernen uns im Angesicht dieser Figurationen in unserer Wahrnehmung selbst neu kennen, fühlen uns angezogen und irritiert, begeistert und erstaunt. Nicht zuletzt führen uns diese eminent materialkräftigen Positionen Bilder vor Augen, die uns über das immer neu aufgegebene Rätsel des Menschen in seiner Lebenswelt und seinem Miteinander nachdenken lassen. Über ästhetische Verschiebungen zur Wirklichkeit gelangen wir in einen aufmerksamen Betrachtungsmodus, der uns Eindrücke liefert, die über unsere Alltagsbetrachtung hinausgehen, die uns aber doch in der Lebenswirklichkeit ankommen lassen. Kein l‘art pour l‘art trotz hoher ästhetischer Ambition zeigt sich hier. Vielmehr werden wir durch die formalen Zuspitzungen mit dem wahrhaftigen Leben umso intensiver konfrontiert. Indem die Holzbildhauerei uns das Menschliche zuspitzt und schärft, Arbeitsspuren ebenso wie Daseinsfurchen zeigt, indem sie Kanten und Ecken ebenso so weiche Rundungen ausstellt, Modelle präsentiert, Miniaturen und Monumentalisierungen bietet, indem sie aufraut und glättet, rückt sie uns das Wesen des Daseins in all seinen Brüchen und Rissen, in all seinen Höhen und Tiefen näher. So fest und standhaft und manchmal starr das Holz anmutet, so dynamisch ist es doch in seinem Wesen, organisch wie der Körper, den es darstellt, mit einer individuellen Geschichte und zugleich universell, gezeichnet mit Kerben, Scharten und Malen, lebendig fließend, zum Körper geronnene und verdichtete Zeit, so wie unsere Existenz selbst.

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Michael Stoeber: Homo ludens
Zum Werk von Reinhard Osiander

„Die Erinnerung ist ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“, lesen wir bei Blaise Pascal. Schön gesagt, aber das hängt sicherlich ganz wesentlich davon ab, wie paradiesisch die Erlebnisse waren, an die wir uns erinnern dürfen.

Bei Reinhard Osiander waren sie es wohl, wenn wir seinen künstlerischen Werken Vertrauen schenken dürfen. Seine Skulpturen aus Holz beschwören nicht nur Erinnerungen an seinen ländlichen Geburts- und Herkunftsort im Süden Bayerns und dessen natürliche Schönheit, sondern auch an die Spiele seiner Jugend mit Freunden dort und an die Träume und Fantasien, die er als Junge hatte, befeuert durch entsprechende Bücher und Filme.

Sein künstlerisches Werk zeigt uns einen eindrucksvollen Cowboy, der sein Lasso kunstvoll tanzen lässt. Drei Reiter, die in geheimnisvoller Mission unterwegs sind. Und unter dem viel sagenden, ein wenig aus der Zeit gefallenen Titel „Rabauken“ (2014) eine Gruppe von Jugendlichen, die dick vermummt ihre Kreise auf winterlichem Eis ziehen. Dass es sich bei der mehrteiligen Installation auch um ein Selbstporträt mit Gleichgesinnten handeln dürfte, liegt nahe. Eine gelichfalls große, aber kompakt geschlossene Installation präsentiert eine Höhle, wie sie Kinder lieben, die sich verstecken, um sich im Spiel zu finden. Und immer wieder sehen wir kunstvoll montierte, kleine Reliefs aus Holz, die mit liebevollen Landschaftsidyllen im Licht wechselnder Jahreszeiten aufwarten.

Der scheinbar naive Gestus der gegenständlichen, sehr direkt erzählenden Holzwerke Osianders darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Machart höchst kunstvoll ist. Seine Arbeiten dürfen wir mit demselben Recht Skulpturen wie Plastiken nennen, geht ihre Entstehung doch auf das Wegnehmen nicht weniger als auf das Anlegen von Material zurück. Im Grunde handelt es sich bei ihnen um dreidimensionale Collagen, die ihre spezifische Physiognomie dem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Form- und Farbelemente verdanken.

In ihnen setzt sich das Experimentieren und Ausprobieren des spielenden Knaben Reinhard, sein Hineinschlüpfen in unterschiedliche Rollen, Aktionen und Abenteuer, auf dem hohen Niveau eines seine Werke präzise kalkulierenden Künstlers fort. Osianders Hommagen an Bayern sind ebenso wenig naiv wie die an seine Kindheit. Der „Spitzigsee“ (2012) mit seinen Reflexionen und Spiegelungen, aber auch die „Schneelandschaft“ (2014), die „Alm“ (2012) und die „Klamm“ (2014) sind hoch ästhetische Artefakte. Die Zusammensetzung Ihrer unterschiedlichen Hölzer, gefundene wie bearbeitete, folgt einer ausgetüftelten Choreographie. Nicht anders als ihre genau aufeinander abgestimmten Farben, die nie plakativ die Hölzer besetzen, sondern in einer geschliffenen – ganz buchstäblich so – und sanft modulierten Farbpartitur.

Dass Reinhard Osiander Werke über Kindheit und Heimat nicht in der Sphäre des Persönlichen und Subjektiven bleiben, sondern Urbilder und Archetypen zeigen, die von uns wie von ihm erzählen, versteht sich dabei von selbst.

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Nicole Büsing und Heiko Klaas: Die Ambivalenz der Idylle

Wie schiffbrüchige Kinder, die sich auf wankende Eisschollen gerettet haben, stehen sie da. Dick eingepackt in eine schwer definierbare Mischung aus Overall und Raumanzug. Handschuhe, schwere Stiefel, Helme und Kapuzen. Zwei der fünf Figuren haben eine Hand zum Winken erhoben. Fast so, als wollten sie ein vorbeifahrendes Schiff auf ihre missliche Lage aufmerksam machen. Die anderen stehen eher passiv oder resigniert da.

Reinhard Osianders „Rabauken“ (S. 54-55) entstanden 2014. Wie alle seine Figuren bilden sie die Realität nicht naturalistisch oder mimetisch ab. Vielmehr handelt es sich um vereinfachte, auf Grundelemente reduzierte Darstellungen, die von einer gewissen Unförmigkeit charakterisiert sind. Seine bemalten Figuren sind kantig, die Oberflächen meist rau gehalten. Die fünfteilige Figurengruppe, zusammengesetzt aus bemaltem Pappel- und Lindenholz, strahlt etwas Theatralisches aus. Man fühlt sich an die ersten Sätze aus dem Stück „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“ des Dramatikers Heiner Müller (1929-1995) erinnert: „See bei Strausberg Verkommenes Ufer Spur Flachstirniger Argonauten Schilfborsten Totes Geäst DIESER BAUM WIRD MICH NICHT ÜBERWACHSEN Fischleichen Glänzen im Schlamm.“*

Die „Rabauken“ repräsentieren einen von drei Werkaspekten, die sich bei Reinhard Osiander finden lassen. Eine Gruppe von installativ arrangierten Skulpturen erscheint hier als präsente und unverrückbare materielle Form im Raum. Sie kann vom Betrachter umrundet werden, es gibt eine Vielzahl möglicher Ansichten und keinerlei festgelegte Blickrichtung. Ähnliches gilt auch für seine frei stehenden Einzelskulpturen, die Repräsentationen unserer täglichen Gegenwart, etwa in Form einer jungen Mutter, die ihr Kind auf dem Arm hält, („Karo“ 2009), ebenso umfassen wie narrativ besetztere Sujets, etwa aus der Welt der Commedia dell’arte („Harlekin“ 2009) oder symbolisch besetzte Helden der Populärkultur (vgl. „Cowboy“ S. 25).

Ganz anders das Vorgehen bei seinen Reliefs, die wie Gemälde oder Fotografien an der Wand hängen. Hier gibt es eine klar definierte Ansicht und einen idealen Betrachterstandpunkt. Einen dritten, ganz eigenen Charakter haben seine Kleinplastiken, meist in Form von Tieren, die aufgrund ihres handlichen Formats nicht an einen spezifischen Ort gebunden sind und darüber hinaus dazu einladen haptisch erfahren zu werden. Es gibt aber auch hybride, installative Anordnungen. Die 2011 entstandene zweiteilige Arbeit „Waldstück“ (S. 31) etwa zeigt die Figur eines stehenden Jagdgehilfen und hinter ihm an der Wand einen jungen Sechsender-Hirsch als Relief.

Inspirationen für seine Arbeit findet Reinhard Osiander unter anderem auf Flohmärkten: alte Postkarten, ein Textilbild von der Zugspitze, Votivtafeln aus Altötting, Cowboyfiguren und anderes Spielzeug. Ebenso benutzt er eigene Fotos. So entstand etwa die Wandarbeit „Bootsverleih“ (S. 21) auf der Grundlage einer Aufnahme, die einen Bootsverleih am Spitzingsee zeigt. Quellenmaterial wie dieses bildet oft den ersten Ausgangspunkt für eine neue bildhauerische Arbeit. Dabei werden die gefundenen Ausgangsmotive aber keineswegs 1:1 übertragen. Reinhard Osiander arbeitet mit Brechungen von gängigen Klischees zu den Themen Heimat, Familie, Kindheit und Idyll. Die siebenteilige Arbeit „Die Stube“ (S. 8) stellt das Thema Kleinfamilie in all seiner Ambivalenz und Brüchigkeit dar. Dem stehenden Elternpaar zugesellt sind ein Junge und ein Mädchen. Dazu kommen eine sitzende Hauskatze, ein bunter Ball und ein Spielzeug-Pick-up. Idealisierten Konstellationen dieser Art begegnet der moderne Großstadtmensch fast nur noch auf Anzeigenmotiven von Immobilienmaklern, Versicherungen oder Modelabels à la Tommy Hilfiger. Indem Reinhard Osiander sie klischeehaft und scheinbar bruchlos nachbildet, bringt er den Betrachter zum Nachdenken über den Mangel an emotionaler Interaktion zwischen den Figuren. Jeder scheint hier nur noch eine festgelegte Rolle zu spielen – dargestellt ist eher ein interesseloses Nebeneinander als ein auf Empathie und Bindung beruhendes familiäres Miteinander.

Holz ist neben Stein und Metall eines der ältesten künstlerischen Materialien. Allerdings war es immer wieder wechselhaften Konjunkturen unterworfen. Einer großen Anerkennung und Beliebtheit im Spätmittelalter – Tilman Riemenschneider mag hier als wichtigster Repräsentant für eine auf „Holzsichtigkeit“ hin angelegte Ästhetik im deutschsprachigen Raum angeführt werden – folgte in späteren Jahrhunderten die weitgehende Überformung des Materials durch versiegelnde Bemalungen oder das Hinzufügen textiler Elemente. Ab dem 18. Jahrhundert besann man sich zunächst wieder auf klassische, aus der Antike überlieferte Werkstoffe wie Marmor, Gips und Bronze. Erst mit Paul Gauguin (1848-1903) und der Südseebegeisterung der frühen Moderne wendete sich das Blatt. Pablo Picasso, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Ernst Barlach und später Georg Baselitz oder Stephan Balkenhol entdeckten die Evidenz des bodenständigen Naturwerkstoffs für ihre Arbeit. Schon Constantin Brancusi bemerkte 1927: „Nebenbei gesagt kann man (als Bildhauer) nicht einfach machen, was man will, sondern nur, was das Material auch erlaubt. So kann man aus Marmor nicht das Gleiche schaffen wie aus Holz oder Stein. Jedes Material hat sein eigenes Leben, und man darf nicht straflos ein lebendiges Material zerstören, um daraus einen stumpfen und sinnlosen Gegenstand zu machen. Daher sollten wir nicht versuchen, den Materialien unsere Sprache aufzudrängen, sondern vielmehr mit ihnen gemeinsam einen Weg beschreiten, der auch andere zu einem Verständnis ihrer Sprache führt.“**

Dieser ästhetischen Herausforderung, eben die ganz spezifischen Materialeigenschaften seines bevorzugten Rohstoffs Holz zum Sprechen zu bringen, stellt sich Reinhard Osiander Tag für Tag. In seinen Arbeiten begegnet uns Holz als das, was es ist: Holz. Auch wenn er es mit farbigen Lasuren sensibel koloriert, so bleibt doch immer der Materialcharakter erhalten. Er bearbeitet Holz mit ganz unterschiedlichen Techniken: Er richtet es mit der Motorsäge grob zu, benutzt aber auch die klassischen Werkzeuge des Bildhauers wie Axt, Beitel oder Schnitzmesser. Manche Partien belässt er in ihrer eher groben und rohen Oberflächlichkeit. Andere, oft sind es die Gesichter seiner Figuren, arbeitet er wesentlich präziser und glatter aus. So kommt es, dass in den verschiedenen Teilen ein und derselben Skulptur ganz unterschiedliche Stadien der Ausarbeitung ablesbar sind. Osiander benutzt substrahierende Verfahren ebenso wie additive. So bestehen viele seiner größeren Figuren und Wandreliefs aus kleinteiligen, unmittelbar der Natur entnommenen Holzelementen, die behutsam konstruierend und der Intuition folgend zu einem Ganzen zusammengefügt werden und so am Ende ein einheitliches Bild ergeben.

Der Prozess des Farbauftrags vollendet die bildhauerische Arbeit. Reinhard Osiander trägt Farbe aus selbst angerührten Pigmenten in mehreren Schichten auf und schleift sie mehrmals wieder ab. So entsteht ein Wechselspiel zwischen einem malerischen Prozess und einer bildhauerischen Antwort. Der aus dem Stamm geschnitzten, homogenen Skulptur setzt er etwa bei den Wandreliefs „Klamm“ (S. 51) und „Spitzingsee“ (S. 44) ein aus vielen heterogenen Bauteilen entstehendes, von Holzdübeln zusammengehaltenes Ensemble entgegen. In wesentlich monumentalerer Form setzt Osiander dieses additive Verfahren bei der Arbeit „Höhle“ (S. 16-17) um. Aus dicken Stämmen, Blumenintarsien, natürlich gewachsenen Ästen und geschnitzten Elementen hat er eine selbst gebaute Höhle nachgeformt, die auf kindliche Versteckspiele verweist.

Ob lebens- oder überlebensgross oder aber als Kleinplastiken, kommen sie nicht bis ins kleinste anatomische Detail ausgefeilt, aber dafür umso charaktervoller daher. Daneben tauchen aber auch überraschende, aus der Reihe fallende Motive auf. Zum Beispiel das im Maßstab stark vergrößerte Remake „Kriegsschiff“ (S. 56-57), dessen Vorlage ein kantiges, graues Schiffsmodell vom Flohmarkt lieferte. Diese Fregatte wirkt keineswegs martialisch, sondern eher wie ein Sammlerstück für Liebhaber des Maritimen.

Banale Fundstücke, Alte Meister im Museum, aber gelegentlich auch die Landschaftsbilder des britischen Malers Peter Doig regen Reinhard Osiander an, einen weiten Bogen zu spannen zwischen der Profanität des Alltags und den unterschiedlichsten Varianten einer künstlerischen Verdichtung. Existenzielle Themen, die Verwurzelung in der landschaftlichen Umgebung sowie die Verortung in einem heimatlichen Gefüge, das jedoch durchaus kritisch hinterfragt werden kann, treiben ihn an. So übersetzt er etwa in der Arbeit „Schneeferner“ (S. 12-13) das Motiv eines Fundstückes (S. 10), welches eine Urlauberfamilie, Vater, Mutter und Kind, beim Wandern vor der Kulisse eines Gletschers zeigt, in eine Rauminstallation. Durch die nicht unironische Appropriation von Allerweltsmotiven wie diesem ruft Reinhard Osiander ein ganzes Bündel von Fragen auf.

Gibt es die hier dargestellte „Heile Welt“ heute noch? Hat es sie je gegeben? Und wenn ja, warum haben wir uns aus ihr vertreiben lassen?

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Prof. Dr. Peter Rautmann: Rede zur Verleihung des ars loci-Preises 2013

Für die Holzskulpturen von Reinhard Osiander aus Bremen ist das Thema der diesjährigen ars loci – Ausstellung „Menschenbilder“ zentral. Erscheinen seine auf den ersten Blick vertrauten Sujets wie Familie, Mutter und Kind, spielende Kinder leicht zugänglich, so irritiert die Statuarik, reduzierte Gestik und entschiedene Frontalität der Figurenensembles den Betrachter nachhaltig, sie halten Ihn auf Distanz. Zur Irritation trägt auch das Unverbundene der Figuren wie in „Familienglück II“, aber auch die Aufgabe der Erwachsenen- zugunsten der Kinderperspektive wie in „Vorhang(gelb)“, in der das sitzende Kind von mächtigen, hochformatigen Vorhangblöcken gerahmt wird.

Das Vertraute wird unvertraut und lädt zu näherer Betrachtung ein. Dabei entfaltet sich ein reiches Vokabular der Materialbearbeitung des Holzes, die von groben, rauhen Sägeschnitten in den Körpern, die diesen eine strenge Architektonik verleihen, bis zu sorgfältiger Durcharbeitung der Köpfe reichen; diese sind nicht expressiv aufgeladen, sondern strahlen Ruhe aus, sind in sich gekehrt. Als zusätzliches Element tritt in den letzten Jahren immer stärker die Farbe in den Holzskulpturen hinzu, wobei öfter die ornamentale Textur der Kleidung, farbig gehöht, bereits in der plastischen Durcharbeitung der Holzoberflächen angelegt ist. Schließlich schafft Osiander durch die Einbindung von Raumelementen wie Wandteile, Bodenplatten und Vorhängen den eigenen Raum der Kunstobjekte zu betonen, der sie einerseits vom Betrachter trennt, wie auch assoziativ-motivlich eine Brücke zu ihm schlägt.

Alle diese Elemente sind selbständig und treten zugleich in ein Geflecht formaler, farbiger und inhaltlicher Beziehungen, die ein Spannungsfeld schaffen und den Betrachter einladen, über die eigenen Vorstellungen, Prämissen, Haltungen im Kommunikationsfeld menschlicher Beziehungen nachzudenken – und dies durchaus lustvoll.

Besonders beeindruckend ist die Installation der skulpturalen Arbeiten Reinhard Osianders in der St. Martinskirche. Hier gelingt dem Künstler eindrücklich durch die Einbindung seiner Skulpturenensembles in den Kirchenraum und die Konfrontation mit der vorhandenen Ausstattung des Raumes ein intensiver Dialog zwischen alt und neu, zwischen der Tradition des Menschenbildes und seiner eigenen, aktuellen Ausformung und Gestaltung.

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Jürgen Weichardt: Rede zur Vernissage „Tiere sammeln“
Kunstverein Kaponier, Vechta, August 2013

Reinhard Osiander zeigt in diesem Ensemble einen Hirsch, aber er sagt nicht, das sei kein Hirsch. Das braucht er auch nicht mehr, denn inzwischen, achtzig Jahre nach Magritte, weiß jeder zu unterschieden zwischen Realität und ihrem Abbild. Aber was ist der Hirsch dann ? Er ist die Skulptur eines Hirschen, und genau diese wollte Reinhard Osiander darstellen.

Reinhard Osiander ist Holzbildhauer. Das ist ein arbeitsintensiver Beruf, der viel Engagement verlangt. Der Künstler hat zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Ausbildungen absolviert – die „Schnitzer –Schule“, die Fachschule für Bildhauerei in Berchtesgaden und die Bremer Bildhauerschule, die Bernd Altenstein von Waldemar Otto übernommen und weiter entwickelt hat.

Wie die Berchtesgadener Schule arbeitet, haben wir hier im Norden vor kurzem erfahren, als im Austausch einige Künstler aus dem südöstlichen Zipfel Deutschlands in Oldenburg ausstellten und einige Oldenburger darauf in Berchtesgaden. Diese berichteten von der zwar traditionellen, vor allem handwerklich aber sehr gelobten Fachschule. Für manchen Künstler ist das Handwerk nach wie vor das Fundament – so auch für Reinhard Osiander. Ob die Berchtesgadener großen Einfluss auf Inhalte genommen hatten, lassen wir mal offen, die Bremer hatten einen Hang zum gemächlichen Provozieren in der Darstellung von scheinbar realistischen Situationen symbolischen Gehalts.

Reinhard Osiander kam nach Bremen und studierte bei Bernd Altenstein den Bremer Realismus. Auch der hat im Stadtbild von Oldenburg – beispielsweise auf dem Marktplatz – seine Spuren hinterlassen, an denen erkennbar wird, dass es der Schule wohl um das Menschenbild geht, nicht aber um einen Naturalismus; es geht nicht um die Wiedergabe der Realität, sondern um die Möglichkeiten der Bronze. Und entsprechend geht es für Reinhard Osiander um das Holz und die Arbeit daran; um Formen, die dem Holz abgerungen, aber auch abgewonnen werden können.

Das hier ausgestellte Werk ist dafür Beispiel. Und selbstverständlich ist, dass der Künstler sehr genau weiß, was die verschiedenen Holzsorten, Baumarten, leisten können, was ihnen abverlangt werden kann: Anders als bei der Bronze verlangen Hölzer immer eine neue Einstellung, also Offenheit und Beweglichkeit des Künstlers.

Stellen wir kurz zusammen, was wir in einem Überblick entdecken können: Neben den lebensgroßen und übergroßen Gestalten, und dazu gehören auch die kleinen Tiere, sehen wir Reliefs etwa von Kühen oder Cowboys, Kompositionen von Bildern mit plastischem Charakter, die aus Aststücken zusammengesetzt sind, ferner Figuren mit deutlicher Farbgebung und solche, wo Farben zurückhaltend auf die Oberfläche gesetzt wurde. Auf der ausliegenden Liste wird den einzelnen Skulpturen jeweils die Holz-Bezeichnung beigegeben, sodass sich jeder von der Biegsamkeit oder Härte des Materials ein Bild machen kann.

Mit anderen Worten – Reinhard Osiander hat den Ausgangspunkt, das Arbeitsprinzip, ein Motiv aus einem einzigen Stück Holz herauszuschlagen, zu schneiden oder zu schnitzen, in mehrfacher Hinsicht erweitert, ohne dabei zu Materialien zu greifen, die der Holzbildhauerei fremd sein müssten, also zB. metallische Verbindungen zu benutzen. Er hat sich bemüht, die Einheit des Materials, des Stammes, zu bewahren, kann aber auch zu Formen der Assemblage greifen, um sein Motiv zu realisieren.

Grundsätzlich folgt er nicht dem Vorbild älterer Kollegen, das Tiermotiv bis zur perfekten illusionistischen Realität zu formen. Er will diese Nähe zur romantisierten Wirklichkeit nicht, die über Kunststoff-Materialien viel schneller und leichter gewonnen werden könnten. Er will nicht darauf verzichten, die Bearbeitung des Holzes sichtbar zu machen. Der Sockel, der bei den Figuren nicht verdeckt wird, ist ein solcher Hinweis, mehr noch die zahllosen Schnitzereien, Eingriffe, Schnitte und Brüche, die der Figur inhaltlich nicht schaden, sie bleibt erkennbar, die aber stets bewusst machen, das ist eine Bildhauer-Arbeit, kein Kunststoff-Damwild.

Aber Holz ist ein lebendiger Werkstoff. Im Unterschied zur Bronze arbeitet Holz weiter, wenn es unter dem Messer des Bildhauers gelegen hatte. Es trocknet, es wird spröde, es bekommt Risse. Der Bildhauer kann das wahrnehmen, aber kaum beeinflussen; aber er kann das in seinen Motiv-Kanon integrieren. Auch diese Eingliederung in das Kunstwerk dient der Betonung „Kunstwerk“, nicht dem Realismus des Motivs.

Ein anderes Mittel ist die Farbgebung. Sie dient nirgends der Illusionierung des Inhalts, dazu ist sie zu verhalten aufgetragen. Sie mag daran erinnern, dass des Jägers Rock grün ist und das Fell des Hirschen braun, doch primär hat die Farbe ihren eigenen Sinn, im Ensemble der Skulptur bestimmte Bereiche zu betonen, anders zu werten. Und diese Wertung durch Farbe hat mit dem Inhalt kaum etwas zu tun, sondern charakterisiert gerade die Eigenart und Eigenständigkeit des Kunstwerks.

Diese Des-Illusionierung ist auch in einem ganzen Ensemble zu sehen, wenn der Künstler für den Hintergrund ein ganz deutlich als Bild geschnittenes Rahmenrelief aufrichtet, aus dem die Tiersammler scheinbar herauslaufen (oben) oder wenn er einen Baumstamm errichtet, wo Blätter und Äste nur summarisch und fast in Reih und Glied angeführt werden.

Der Betonung – das ist Holz – dienen schließlich auch die scheinbar unbearbeiteten Holzblöcke, die auseinander gebrochen erschienen und mit ihren zahllosen Spitzen fast schon – und hier versagen die beiden Begriffe Silhouette und Skyline – die ferne Räumlichkeit einer Stadt-Aufsicht oder das Innere einer Skalakmiten-Höhle assoziieren.

Die Leidenschaft, mit der Reinhard Osiander dem Holz zu Leibe geht, ist eine Sache und durchaus faszinierend; doch finden wir solche Unmittelbarkeit künstlerischer Arbeit am Holz auch bei Kollegen. Es gibt etwas anderes, was die Arbeiten von Reinhard Osiander spannend und besonders macht, das ist ihre Thematik. Förster, Hirsch, Hasen, Wald, Kühe und Cowboys waren nahezu vollständig seit fast hundert Jahren aus der Kunstgeschichte verschwunden, wenn man einmal von Heimat- und Hobbymalern absieht. In den siebziger Jahren veranstaltete der Bergkamener Bilderbasar – ein Wochenende, in dem die Bergarbeiterstadt Bergkamen mit moderner, d.h. damals aktueller, sogar avantgardistischer Kunst konfrontiert wurde – sogar eine Tauschaktion, bei der die Einwohner ihre „Röhrenden Hirsche“ aus dem Schlafzimmer eintauschen konnten gegen moderne Bilder zeitgenössischer Künstler, d.h. allgemein: das Wild- und Förster-Thema hatte ein Geschmäckle.

Seit 2000 beobachten wir einen Wandel. Negativ besetzte Themen finden wieder Aufmerksamkeit, sie reizen Künstlerinnen und Künstler, sich damit zu beschäftigen, sie zwingen zur Auseinandersetzung, sie provozieren. Das geht einher mit der Facebook- Enthemmung, mit der Liquidierung aller gesellschaftlichen Tabus, abgesehen von solchen der politischen Correctness.

Mit anderen Worten, das Werk von Reinhard Osiander ist, ob gewollt oder unbewusst, ein Beispiel, wie ein nach den Worpswedern und ihrer Zeit tabuisiertes Thema wieder aufgegriffen und gesellschaftsfähig gemacht werden kann. Dazu gehört, dass Reinhard Osiander eben nicht den realistischen oder naturalistischen Weg gewählt hat, sondern die Spuren seiner Arbeit am Holz als Teil des Kunstwerks sichtbar stehen lässt, anders als etwa John d’Andreas Aktfiguren, die Germanys Next Top Models nicht nachstehen, sie vielmehr vorwegnehmen, weil sie das Ideal zeigen.

Dass wir es hier mit einem Trend zu tun haben, zeigt die diesjährige Biennale in Venedig, wo unter dem Stichwort „Außenseiter“ (Outsider-Art) alle diese ähnlichen Motive und Darstellungsweisen ausgestellt werden, von denen sich der Mainstream der Kunstkritiker der siebziger und achtziger Jahre mit Schaudern abgewandt hatte.

Reinhard Osiander trägt also inhaltlich dazu bei, Themenfelder wieder gesellschaftsfähig zu machen, die zwei, drei Generationen lang verschüttet waren.

Und mehr noch, er entwickelt viele seiner Motive ganz dialektisch aus gegensätzlichen, sich im Grunde widersprechenden Elementen. Dass Künstler das Meer und die Wellen mit Farben gemalt haben, ist normal, die Farben waren flüssig. Reinhard Osiander aber nimmt runde Aststücke, um Wellen darzustellen, also feste Körper für eine fließende Bewegung. Wenn man auf diese Bildreliefs schaut, muss es im Kopf erst einmal knacken, muß ein Hebel umgelegt werden, um zu erkennen, das Feste ist das Flüssige. Vielleicht ist dieser Umschalt-Prozess das Eigentliche, das dieser Künstler provoziert: Denn im Grunde ist auch bei den Motiven von Tier und Mensch dieser Vorgang zu beobachten – Das Feste – Holz – ist das Weiche, ist der Körper, aber es bleibt immer im Kopf, wir haben es hier mit Holz zu tun, nicht mit einer neuen Romantik, nicht mit realen Tieren und ihren Sammlern, nicht mit Hirsch und Hase, sondern mit Holz, das sich formen lässt.

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Rainer Beßling: Rede zur Ausstellung “Die gute Stube”
Rotes Kreuz Krankenhaus, Bremen, 12.9.2010

Karo – vermutlich ist das nicht der abgekürzte Vorname der hölzernen Frau mit Baby im Foyer. Das Design des Kleides dürfte hier Titel gebend gewesen sein. Das karierte Muster mit verschieden farbigen Feldern ist der erste Blickfang in Reinhard Osianders Doppel-Figur. Geradlinig geht‘s in der Struktur nicht zu. Grob und unregelmäßig sind die Schnitte ins Holz gebracht. Auch die Farbe haftet eher bruchstückhaft auf dem Grund.

Sicher haben wir es hier mit einer figürlichen Darstellung zu tun, schließlich genoss der Künstler seine Ausbildung in der Bremer Bildhauerschule. Auch kommt die Größe der Figur der Lebenswirklichkeit nahe, und in den Gesichtern könnten wir fast ein realistisches Porträt erkennen. Doch Erscheinung und Auftritt der Dame werden im Ganzen mit deutlichem bildhauerischem Eingriff übersetzt. Die Werkspuren sind sichtbar, von den Knien abwärts scheint mehr die Standfestigkeit als eine anatomische Ausformung das leitende bildnerische Kriterium gewesen zu sein. Auch das Kind, das die Frau auf dem Arm trägt, ist zu einer plumpen Plastizität stilisiert in seinem Strampler ähnlichen Dress. Und was heißt auf dem Arm tragen. Die vor dem Bauch übereinander gelegten Arme der – man kann vielleicht vermuten – Mutter fungieren eher als Sockel, der ja seinen festen Platz in der skulpturalen Praxis hat. Angeschmiegt ist das Kind nicht, eher buchstäblich aufgesetzt, die beiden sind mehr nebeneinander aufgestellt als zueinander gewandt.

Der Blick der beiden unterstreicht die Parallelität. Gleichgerichtet fixieren sie einen bestimmten Punkt, der offenbar weit entfernt liegt. Zugleich scheint ihre Aufmerksamkeit ganz nach innen gerichtet. Mit diesen Augen ist kein Kontakt aufzunehmen. Sie blicken am Betrachter vorbei. Sie suchen kein Gegenüber. Es bleibt offen, ob hier Erwartung im Blick liegt, Erstarrung oder Leere. So sehr man hier auch forschen und eindringen mag, es bleibt zu befürchten, dass das Geheimnis der beiden nicht gelüftet werden kann, dass die Starre nicht zu lösen, die Statik nicht zu animieren ist. Die Irritation, die von Osianders Figuren, aber auch von seinen Tieren, Landschaften, den Seestücken und Vorhängen ausgeht, ist weit größer als bei abstrakteren Formationen.

Zu Skulpturen haben wir einen besonderen Zugang. Körper im Raum nehmen wir viel direkter wahr als Bilder. Vor allem wenn es um eine menschliche Gestalt geht, selbst wenn Volumina, Linien oder Proportionen nur angedeutet sind, versuchen wir eine Verbindung aufzunehmen über die Position im Raum. Wir interpretieren Neigungen der Form als Haltungen, Posen und Gesten. Wir suchen das Eigene im Gegenüber, eine Spiegelung unserer physischen Präsenz. Wir koordinieren mit dem anderen Körper die Stellung im Raum. Wir versuchen, Abstand, Nähe, Attraktion oder Abwehr zu klären. Hier gelingt das kaum. Die Figuren behalten ihre Distanz, ihre Haltung trägt dazu bei, dass wir uns wie Eindringlinge fühlen und Zaungäste bleiben. Die Starre schirmt ab. Dabei identifizieren wir die Darstellungen und erkennen Situationen wieder. Wir überblenden die Skulpturen in unserer Vorstellung mit belebten Szenen, lassen die Vorhänge schwingen oder setzen das Wasser in Bewegung. Die Figuren schließen sich dieser Imagination aber nicht an, sie hüten ihre Rätsel.

Osiander stellt seine Protagonisten häufig in räumliche Situationen, die weniger einen konkreten Ort schildern als das physische Verhältnis der Figuren zum Raum. Dabei schwingen psychische Befindlichkeiten und die philosophische Reflexionen über Grundformen menschlicher Existenz mit. Auch die Raumattribute wie Wände, Nischen, Ecken und Böden verweisen auf die bildnerische Herkunft des Künstlers. In neueren Arbeiten verzichtet er auf solche greifbaren Abgrenzungen.

In dem großen Ensemble “Die Stube” deuten wenige Attribute auf konkrete Räumlichkeit nur hin. Die Figuren bringen ihre Lebenswelt praktisch mit. Der Titel lässt Wärme und Heimeligkeit assoziieren. Allerdings transportiert er auch die Skepsis mit, die sich gegenüber hermetischer Häuslichkeit allgemein etabliert hat. Die Familienaufstellung wirkt wie ein Familienfoto, steif und gezwungen. Das Material scheint Programm, die Protagonisten kommen hölzern daher. Das Elternpaar steht wie ein schützender Schirm hinter den Kindern. Eine Formation, die Rollenzuweisungen und Funktionen bedient. Sichtbaren Kontakt untereinander nehmen die vier nicht auf. Was sie verbindet, ist ihre uniform statische Haltung. Sie teilen ein Schicksal. Sie erscheinen ausgestellt, mehr als plastisches Abziehbild einer Lebensform, hingestellt und irgendwie auch abgestellt. Und wie im richtigen Familienporträt wissen sie kaum, wohin mit den Armen. Von oben nach unten sind die Figuren immer weniger ausgeformt. Wie angewurzelt stehen sie auf plumpen Beinen. Schockstarre, müde Sehnsucht, Erwartung? Vitalität sieht jedenfalls anders aus. Pulloveraufdrucke und -applikationen lesen sich wie Versatzstücke geborgter Identität. Diese Figuren sind imprägniert mit Vergangenheit und Sehnsucht. Ihre Identität scheint sich aus Erwartung zu speisen. Sie scheinen gelähmt und hypnotisiert von Vergangenheit und Zukunft. Deshalb besitzen sie keine Gegenwart, keine Präsenz, die den Raum belebt. Der Kunstraum wird von den Plastiken eher still gestellt, die Figuren, für die sie stehen, dürften auch ihren Lebensraum nicht füllen und bewegen. Sie scheinen darauf zu warten, dass etwas mit ihnen geschieht. So wenig sie untereinander und miteinander agieren, so wenig stellen sie Kontakt zum Betrachter her. Figuration und Situation sichern eine schnelle Kenntlichkeit, doch zugleich wird das Befremdliche umso deutlicher. Die vermeintliche Heimeligkeit der Stube ist vielfach gebrochen.

Osianders Protagonisten sind keine Akteure, sie tragen vielmehr Spuren. Es sind die Spuren des bildhauerischen Arbeitsprozesses, aber auch Lebensspuren. Gerade aus ihrer reibungsvollen schwebenden Existenz zwischen Schilderung und skulpturaler Setzung beziehen sie ihre innere Energie und suggestive Kraft. Die Ruhelage des Körpers steht im Spannungsverhältnis zur expressiven Oberfläche. Die fragmentarische farbliche Fassung durchkreuzt die Geschlossenheit der Aufstellung. Nicht Volumenspannung prägt den Raum, vielmehr wirft die Körperlichkeit die Frage nach der wirklichen Anwesenheit der Personen in ihrer Lebenswelt auf. Die knappe Unterlebensgröße macht das Ensemble zu einer Art Modell. Fragt sich, ob das Modell Stube empfehlenswert ist.

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Dr. Arie Hartog, Gerhard-Marcks-Haus, Bremen: Katalogtext „Die Stube“

Ist der Begriff Stube „ironisch“? Die Figuren von Reinhard Osiander stehen oder sitzen steif nebeneinander ohne zwischenmenschlichen Kontakt. Sie gehören zusammen, weil sie zusammengestellt wurden. Die Stube als der Kern eines traditionellen europäischen Haushalts, wo man sich gegenseitig wärmte, ist hier weit weg. Sind es umgekehrt Sinnbilder einer existenziellen Einsamkeit? Wohl kaum. Osianders Figuren erwarten keine Empathie. Sein Werk zeigt Situationen aus der Realität, umgesetzt in eine bildhauerische Welt, in der diese Realität ihre Bedeutung verloren hat.

Eine der zentralen Ideen in der neueren Kunstbetrachtung ist die Frage, wie ein Kunstwerk mit der Aufmerksamkeit eines Betrachters umgeht. Das mag wie ein Anthropomorphismus erscheinen, etwa wenn der amerikanische Theoretiker W. J. T. Mitchell danach fragt „what do pictures want“, aber es gibt eine Antwort darauf, die zum Kern der modernen Kunst führt: „nothing“. Natürlich spekuliert alle bildende Kunst auf Publikum, aber die Frage ist, ob ein Werk sich gezielt auf Betrachter ausrichtet und um Aufmerksamkeit buhlt, oder ob es in sich versunken erscheint. Die erstgenannte Methode ist die des Mainstreams: Kunst, die sich auf das Niveau der Veranstaltungshallencomedy herablässt und sagt: „Hallo Betrachter, geht es Dir gut“. Die andere Kunst dagegen – wozu auch die des Reinhard Osiander gerechnet werden sollte – erlaubt dem Betrachter zwar einen Zugang, konfrontiert ihn aber gleichzeitig mit einer unüberbrückbaren Distanz. Osianders Werke sind stur und verschlossen. Betrachter empfinden nicht, als befänden sie sich in einer Situation zusammen mit ihnen. Und das, obwohl der Künstler auf den ersten Blick eine nette, freundliche Form der figürlichen Bildhauerei schafft. Dieses Werk trägt Widersprüche in sich – und zeigt sie.

Bestimmend für die Wirkung dieser Skulpturen ist neben der Distanz ihre besondere Erscheinung, in der unterschiedliche Bearbeitungsmethoden gleichwertig nebeneinander existieren. Die detaillierte Ausarbeitung einzelner Elemente betont die rauhen und grobgeschnitzten Teile, genauso wie farbige und unbemalte Teile sich kontrastieren. Die einzelnen Arbeiten verstoßen gegen das Gesetz der Einheitlichkeit, das sich aus dem Akademismus in die heutige Holzplastik gerettet hat. Osiander widersetzt sich der Mode, Holzplastik auf die bloße Darstellung von etwas in Holz zu reduzieren, wobei es letztendlich egal ist, ob Giraffe, Mensch oder Nashorn. Bei aller Distanz: In Osianders Welt ist nicht alles gleich. In diesen Skulpturen zeigen sich die plastische Vielfalt des Materials und die sich daraus ergebende mögliche Ordnung. Für Osiander sind plastische Elemente unterschiedlicher Qualität die Bausteine, aus der er seine Bilder baut. Sein Anliegen ist also nicht die Einheit des „gebildhauerten“ Kunstwerkes, sondern die des daraus ent​stehenden Gesamtbildes.

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Dieter Begemann: „Das Klischee lauert überall“
Weserkurier vom Sonntag, 25 Mai 2008
Zu der Ausstellung „Familienglück“ im Pavillon des Gerhard-Marcks-Hauses, Bremen

Reinhard Osiander nutzt den Pavillon des Gerhard-Marcks Hauses als Bühne für die Inszenierung eines Familienstückes. Er befasst sich intensiv mit den heutigen Möglichkeiten der figürlichen Darstellung. Dabei gilt es, ein weites Spannungsfeld auszuloten, welches auszumachen ist vor allem im Verhältnis von individuellem Portrait und dem allgemeinen Bildnis sowie, noch grundsätzlicher, zwischen dem Interesse an der Wiedergabe der menschlichen Gestalt und den formalen Anforderungen, die an eine Skulptur gestellt werden müssen.

Die Aufgabe, die Osiander sich für den Pavillon gestellt hat, ist anspruchsvoll, geht es doch um nicht weniger als die dreidimensionale Wiedergabe einer ganzen Figurengruppe – wobei natürlich die Beziehungen untereinander in den Blick kommen müssen – und die Verortung des Ganzen in einer räumlichen Szenerie.

Die Gruppe ist so banal, so allgegenwärtig wie auch schwierig (im Leben und in der Darstellung): Papa, Mama, zwei Kinder und, nicht zu vergessen, der Hund. Das Klischee lauert in jedem Winkel, wie sie sich da auf dem Sonntagsausflug so aufgebaut haben zum Schnappschuss, der das Glück, das ach so flüchtige, für das Album ein für allemal festhalten soll.

Der Künstler hat eine solche Fotografie wie sie jeder aus dem eigenen Leben kennt, rückübersetzt ins Dreidimensionale. Statt aber zum illusionistischen Realismus zu greifen, läßt er sehr deutlich neben dem eigentlichen Sujet das Material selbst sprechen. Das aber ist Holz, sehr massiv, um nicht zu sagen derbe. Zu weicheren Rundungen sind lediglich die Gesichter herausgearbeitet, die Körper stecken noch blockartig im Holz.

Fast haben sie etwas von Spielzeugfiguren, die aus Bauklötzen aufgeschichtet sind. Der (selbst auferlegte) Zwang zum Glück, man kann ihn fast greifen… die formale Durchführung unterstützt das: zwar bilden die Figuren starke Vertikalen, diese werden aber durch die tiefen fast ausschließlich waagerechten Einschnitte der Kettensäge konterkariert.

Eine farbige Fassung setzt der Künstler zur zusätzlichen Oberflächengestaltung ein. Er tut das aber sehr sparsam, Bemalung und Form sind verschränkt, wenn farblich herausgehobene Muster der Kleidung gleichzeitig auch plastisch differenziert werden.Während der Ausstellung verlegt Osiander durch gezielte Eingriffe die Lokalisierung der Szene vom Außenraum in ein Interieur.

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Dr. Arie Hartog, Gerhard-Marcks-Haus, Bremen: Katalogtext „Meister“
Anlässlich der Meisterschülerausstellung der Hochschule für Künste Bremen, 2004

Die „figürliche Bildhauerei“ kennt eine bemerkenswerte hohe Popularität, die eigenartig mit dem Brechreiz kontrastiert, den manche Fachleute bei der Betrachtung dieser Kunst vortäuschen. Popularität und Ablehnung basieren jedoch auf dem gleichen „figürlichen“ Element, nämlich darauf, dass man Menschen erkennt und leider viel zu wenig auf die Würdigung anderer Qualitäten. Eine Diskussion darüber, dass bloß Figur zu wenig ist, findet kaum statt.

Die Holzskulpturen von Reinhard Osiander sind mehr, sie sind voller Spuren. Sie lassen sich als das Resultat eines Prozesses „lesen“. Am Anfang steht die Idee einer figürlichen Darstellung, aber über eine eigentümliche Verbindung von Addition und Konstruktion einerseits und Wegschneiden und Redution andererseits, entfernt sich die Form von diesem Ausgangspunkt.

Osiander nutzt die bildhauerischen Möglichkeiten des Materials mit einem Baumstamm sofort Masse zur Verfügung zu haben und arbeitet daraus oft klobig wirkende, statische Figuren. Das handwerkliche Können ist spürbar, wird aber durch grobe Formen immer wieder gebrochen. Aus den Skulpturen lässt sich somit ein gesunder Zweifel an intakte Zusammenhänge herauslesen: Diese Figuren haben kein geplantes Konzept, sondern sie haben sich entwickelt.

Um sie herum baut Osiander Räume und Bühnen. Für den Maßstab dieser Räume sind die darin enthaltenen einsamen lebensgroßen Figuren essenziell. Indem er unpathetische lebensgroße Figuren in leere Räume setzt, macht er sowohl Existentialisten als auch Liebhabern von großen Formen ein Visuelles Angebot.

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Publikationen

Gehölz – zeitgenössische Holzbildhauerei
Syker Vorwerk, Syke
Texte von Nicole Giese und Michael Stoeber
ISBN 978-3-9815235-3-9

Schneeferner
Herausgegeben von der Petra und Dieter Frese Stiftung
Text von Nicole Büsing und Heiko Klaas, Hamburg und Berlin
Gestaltung: Alexandra E. Jeep, Bremen
Rasch Verlag, Bramsche
21 × 26 cm, 64 Seiten
ISBN 978–3–89946–239–5

Die Stube
2009
Holzskulpturen Reinhard Osiander

Kunst in der Carlshütte
2008
Kic-Nordart

Die Dunkle Seite
2007
Text Angela Piplak
BBK Bremen

Gesichtet – Das Portrait in der aktuellen Kunst
2006
Text Susanne Hinrichs
BBK Bremen

Die Bremer Bildhauerschule
2004
Gerhard-Marcks-Haus, Bremen
Texte von Dr. Jürgen Fitschen, Veronika Wiegartz und Dr. Arie Hartog
ISBN 3-924412-48-0

Meister
2004
Meisterschüler der Hochschule für Künste Bremen

Aufbruch-Abschied Kunst an der Kante
2000
Morgenstern Museum Bremerhaven
Texte von Anja Benscheidt, Alfred Kube, Dr. Arie Hartog u.a.
ISBN 3-89701-596-2

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