Dr. Rainer Beßling: "vom Holz", zur Ausstellung im Palais Rastede 11.3.2018

Dr. Rainer Beßling: vom Holz
Einführungsrede am 11.3.2018, Palais Rastede

Die Holzbildhauerei zählt zu den ältesten künstlerischen Techniken. Sie fußt auf einem Material, das Menschen aller Kulturen seit Anbeginn ihrer Geschichte begleitet. In ihm wächst uns auch ästhetisch etwas Ursprüngliches zu. Nicht zufällig rückte das Holz zu Anfang des 20. Jahrhunderts wieder in den Fokus der Künstler, als die Rückkehr zu den Urgründen der Kunst und eine expressive Unmittelbarkeit ihre Arbeit bestimmten. Aber auch heute, das zeigt diese Ausstellung mit ihrem weiten Spektrum an Ausdrucksweisen, haben der Werkstoff und die mit ihm verbundenen Ausmessungen menschlicher Figuration und Auslotungen menschlicher Existenz nichts von ihrer Kraft verloren. Vielleicht berührt uns in Zeiten digitaler Herrschaft die Stofflichkeit des ästhetisch geformten Holzes sogar noch mehr, als ein Hauch von Exotik und Archaik vor der eigenen Tür. Gerade in den Randbezirken des Figürlichen, auf den Schwellen zur Abstraktion und Stilisierung entwickelt Holzbildhauerei mit zeitgenössischen Bildsprachen, Menschen- und Weltbildern eine vitale Wirkung – was ich an den einzelnen Positionen nun erläutern möchte. Der Vollständigkeit halber seit erwähnt, dass es auch einige Bronzen in die Ausstellung geschafft haben. Sie wurzeln in den Holzarbeiten und fügen sich ein.

Ulrike Gölner hat sich bei der Auswahl der Exponate vom Ausstellungsraum inspirieren lassen – für ein Kontrastprogramm. Dem dekorreichen Ambiente setzt sie strenge Formen entgegen. Zugleich inspirierte sie das ehemalige Wohngebäude zur Präsentation von Skulpturen, die bei aller Nähe zu pflanzlichen Gebilden an menschliche Gestalten denken lassen. „Figuren“ lautet denn auch der Titel ihrer Werkgruppe aus Holz und einer Bronze. Sie lässt damit klare Körperlichkeit in ein heimeliges Interieur einziehen. Ein Schauspiel aus abstrahierten Bewegungen und bildhauerischen Setzungen eröffnet sich vor unseren Augen. Vertikale Ausrichtung und diagonale Ausbuchtung großer stelenartiger Gebilde summieren sich zu einer kurvigen Choreographie. Die Protagonisten dieses Ensembles scheinen sich zu positionieren und zu kommunizieren. Das eine spiegelt das Andere und bricht sich im Gegenüber. Erst in der Gruppe bilden sich Identitäten aus. Vereinzelung und Gemeinschaft sprechen zugleich aus diesem Kreis. Und auch wir selbst verhalten uns dazu, umrunden die Figuren, suchen verschiedene Standorte und Blickwinkel, treten ihnen näher oder einen Schritt zurück. Dabei ereignet sich etwas Fundamentales: Wenn wir auf eine körperliche oder körperähnliche Erscheinung treffen, gleichen wir spontan Daten ab, die Größe, die Proportionen, die Entfernung. Wir nehmen selbst im Raum eine Position zu den plastischen Platzierungen ein. Wir beleben mit unserer Wahrnehmung die schon selbst dynamischen Figuren weiter.
Nicht zuletzt die Kopfstücke von Ulrike Gölners Figurinen lassen uns an eine menschliche Gestalt denken. Zugleich aber sind Herkunft und der Ursprung der Stämme aus einem kleinen Eichenwäldchen noch erkennbar, in dem die einzelnen Bäume dicht an dicht standen und auf ihrem Weg zum Licht ihre kurvige Gestalt ausbildeten. Der bogenförmige Verlauf bringt Regung in die Skulptur. Statik und Dynamik begegnen und durchdringen sich. Wir sehen Neigungen wie ein sanftes Nicken, Biegungen wie die Andeutung einer Rumpfbeuge. Ganz offenbar bedarf es nur weniger Linien und Volumina, um bei uns die Vorstellung bewegter Körperlichkeit zu wecken. Das Anregende an Ulrike Gölners plastischer Sprache ist, dass sie die Anspielungen an die menschliche Figur nicht ausformuliert, sondern lediglich suggestiv anstößt, in uns weiter reifen lässt. Die Künstlerin geht von formalen Erwägungen aus und entfaltet daraus eine Figuration. Sie bildet nicht ab, sondern bildet aus. Spannend ist auch, dass mit der Reduktion der Formensprache keine Einengung einhergeht, sondern eine Ausdehnung der Assoziationen. Je abstrakter die Form auftritt, desto weiter scheinen die Möglichkeiten erzählerischer Anlagerungen zu streuen. Gleichzeitig stellt die Reduktion und formale Klärung eine Verdichtung dar. Wir stehen nicht einer Vielzahl von Attributen gegenüber, sondern sind mit einem Kern von Körperlichkeit konfrontiert.

Hier schlägt sich der Werkprozess nieder, der Zugriff der Künstlerin auf einen Stamm, dessen Wuchs in ihr schon eine bestimmte Formvorstellung hervorgerufen hat und eine Idee vom Wesen der Figuren. In dieser reduzierten Form erscheint Organisches, keimhaft Pflanzliches, wie auch figürlich Zeichenhaftes: der Mensch hineingeworfen in sein Dasein, konkretisiert auf den Kern seines Seins. In uns werden durch die Begegnung mit diesen beschwörenden Stelen Empfindungen wie Empathie oder Mitgefühl geweckt. Vielleicht identifizieren wir uns mit der einen oder anderen Haltung oder erkennen sogar uns bekannte Wesen wieder. Ulrike Gölners Figuren verdanken ihre Vielschichtigkeit ihrer klaren Formgebung und der Mitsprache des Materials, dem Vexierspiel zwischen Wuchs und Wesen, zwischen Dynamik und Statik. Der Stoff spielt in die Form hinein und die Form weist ins Figürliche. Es entsteht eine bruchlose Schönheit, von der wir uns magisch angezogen fühlen, ein sanfter, harmonischer Schwung, ein ausgewogener Rhythmus, eine schmeichelnde Präsenz. Die Figuren sind abstrakte Form und Gleichnis von körperlicher Befindlichkeit auf gleicher Höhe.

Schnitt: Klaus Hacks figurative Konstrukte besitzen Elemente mythologischer Artefakte und surrealistischer Kombinatorik. Sie liegen in ihrer expressiven Bildsprache zwischen den Motivgattungen, verschmelzen Körperliches mit Dinghaftem, Naturhaftes mit Architektonischem. Leibliche und gegenständliche Elemente verwachsen mit kubischen Grundformen. Die hybriden Figuren erscheinen eingebettet in geometrische Konstrukte, verweben sich, halten sich an oder werden gehalten von Mobiliar oder Gerüst. Sie erscheinen hineingebaut in merkwürdige Gerätschaften, in riesenhafte turmgleiche Kleidung als zweiter Hülle und schützender Behausung. So bilden sich anschauungsmächtig und kraftvoll präsent Wesen aus, die sinnbildlich erschlossen werden wollen und mehrbödig bleiben. Mit einer „Fährfrau“ greift der Künstler in archaisch reduzierter Form das reich befrachtete Bild einer schicksalsträchtigen Wasser-Passage auf, eines Transports, der als Übergang zwischen verschiedenen Welten oder Existenzweisen gesehen werden kann. Die Körperform ist kubisch angedeutet, besitzt Nähe zu kultischen Figurationen und bleibt inhaltlich offen. Ein „Schreikleid“ genanntes Objekt zeigt eine Person auf einem Hockerturm in exponierter Lage, aber nicht unbedingt festem Stand, ein mögliches Sinnbild für eine emotionale Ausnahmesituation, erregt und gefährdet, extrovertiert und ausgeliefert in gleicher Weise.

Oft noch wie verbunden mit dem ursprünglichen Gehölz treten die plastischen Gebilde organisch und konstruktiv zugleich auf, vielgliedrig und vielschichtig. Sie erscheinen ebenso aus dem Stoff herausgewachsen
wie dezidiert strukturell entwickelt, in einer seriellen Grundformensprache, rasterhaft, gitter- oder wabenartig mit zeichenhafter Anlagerung und ornamentalen Seiten. Sie wirken kantig und filigran detailreich zugleich. Die grafisch bewegte Oberfläche samt der Struktur des Holzes wird durch eine weiße Fassung eingeebnet, vereinheitlicht und beruhigt, eine Anmutung von Haut und Schleier in einem. Eine Aura der Künstlichkeit vermengt sich mit stofflicher Ursprünglichkeit. Dazu treten Bearbeitungsspuren, die für eine dynamische, energiereiche Oberfläche sorgen. Zu den häufig auftretenden und variierten Formation Klaus Hacks gehören Turmbauten. Schon im Titel schafft der Bildhauer eine Brücke zur biblischen Erzählung über die antike Stadt Babel, die von bildhafter Gültigkeit für unsere Gegenwart der wachsenden Millionenstädte und technischen Gigantomanie ist. Zu dieser Werkgruppe lässt sich auch die Arbeit Metropolis zählen. Eine Ansammlung von käfigartigen oder wabenförmigen Behausungen zeigt die Metropole als wuchernden Moloch. Die polymorphe Konstruktion besitzt Züge eines ausgreifenden Körpers mit Kopf, Rumpf und Gliedmaßen und einer figurativen Pose.

Urbanität und Organismus vereinen sich miniaturisiert und modellhaft zu einer prekären Statik, welche die Hybris menschlicher Architekturen und Projekte ausweist. Das Gebilde scheint seinen Architekten und Planern über den Kopf gewachsen zu sein, eine Eigendynamik zu entwickeln, die Raum greift und Raum frisst, die ihre Bewohner einzuschließen und zu verschlingen droht, die den Menschen hinter seine Behausung zurücktreten lässt und ihn einpfercht in eine normierte Masse. Ein Organismus nach eigenem Plan ist geboren, weniger Konstrukt als pochender Körper. Kopf, Rumpf und Arme tragen verschiedene Geschosse. Der Gebäudekörper gleicht einer tierischen Zusammenballung, der Stammbildung von Insekten, deren Einzelexistenz ganz in den Dienst der Masse gestellt ist. Detail und Ganzes spielen formal zusammen und vermitteln den Eindruck von Proportionen und Größen, die über das menschliche Maß hinausreichen. Mehr als funktionell scheint das Ganze schicksalhaft verschränkt zu sein, zum Zusammenleben und Wachsen verdammt. Eine Kreuzform oben besitzt Konturen eines Aussichtsturms oder der Kabine eines Schiffes. Die Assoziation an einen Schiffskörper drängt sich auf, an ein Schiff auf hoher See, wobei das Schiff als Metapher eines Lebenswegs gelesen werden könnte, ein universelles Bild für eine Passage durch vielfach mit Gefährdungen befrachtetes Gebiet..

Der nächste Schwenk: Reinhard Osiander präsentiert uns vertraute Szenen und Figuren, scheinbar leicht erkennbare und entschlüsselbare Bilder aus dem häuslichen oder familiären Leben, aus der heimeligen Stube oder vom Ausflug auf dem Lande. Er führt uns Erinnerungsmomente vor: Porträts, Interieurs, Landschaften, Spielsachen, Medienfiguren, Mobiliar. Trotz ihres wenig verschlüsselten oder stilisierten Auftritts erscheinen sie nicht wie unmittelbare Wahrnehmungsfunde. Als Foto oder Gemälde oder im Film hätten sie ihren angestammten Platz und würden von uns reibungslos angenommen und abgebucht. Als bildhauerische Stücke im Holz aber erscheinen sie verschoben, gerade ihre Nähe zur Bildrealität oder besser ihr realistischer Nachbau lassen sie im wahrsten Sinne merkwürdig und als artifiziell erscheinen.

Wenn das Bild eines Vorhangs am Fenster in Holz vor unser Auge rückt, wenn die wehenden Tuchbahnen als modellierte Miniatur aus Ästen auftauchen, gewinnen sie greifbare Präsenz als Insignien von Häuslichkeit und fremde Stofflichkeit zugleich. Sie wirken übersetzt in eine ungewöhnliche Gattung und zeigen sich selbst als Produkte mehrfacher Vermittlung, als Transportmaterial der Erinnerungskanäle und Gedächtnisspeicher, die ihre Güter für gewöhnlich kräftig durchrütteln und aufmischen, die auslesen und hinzufügen.

Mit dem grob-kräftigen bildhauerischen Zugriff auf den Werkstoff Holz rückt der Künstler das Naheliegende in fernere Bezirke. Als Skulptur oder Relief erscheinen uns die Wesen und Objekte fremder. Ihre Identifizierung als Vorhang oder Laub beruhigt uns nicht, lässt uns sie nicht identifizieren und gibt uns keine Orientierung, sondern irritiert und erregt mit einer tendenziellen Fremdheit umso mehr unsere Aufmerksamkeit. Laub gewinnt als hölzernes Relief eine zutiefst merkwürdige Anmutung. Das Leichte, das flirrend Bewegliche, die luftige Stofflichkeit verwandeln sich in dichte Schwere, die auch durch die Bemalung nichts von ihrer Physis und Konsistenz verliert. Es ist, als wolle die Statik Dynamik spielen oder umgekehrt, Imagination verfängt sich in der Materialität, ein gleichermaßen verunsicherndes wie faszinierendes Schauspiel, bei dem die Bühne zum Relief oder zur Skulptur wird. Gebrauchte oder verbrauchte Bilder werden so gerade über ihre Festigkeit zu neuem Leben erweckt. Die einst mit ihnen verbundene Ursprünglichkeit und Anschaulichkeit werden neu entfacht.

Kasperl, Krokodil, Cowboy, das sind Figuren aus frühen analogen Kindertagen, als noch nicht Smartphone und Tablet als Fenster zur Welt fungierten, als die Protagonisten auf den Marionettenbühnen noch handlich gefertigt und handish geführt wurden. Wer bewegte die Puppen damals? Wen erschreckten, belustigten sie in früheren Zeiten, wer fieberte mit, wer ließ sich verführen? Können wir uns heute noch in diese Fantasiehelden hineinversetzen? Wie der hölzerne Teil der Handpuppen treten sie hier auf, monumentalisiert, so groß wie sie in der Wahrnehmung der Kinder vielleicht erschienen sind, so greifbar stofflich wie kein Bildschirmwesen es je erreichen wird, und dabei doch so unwirklich, als grüßten sie aus einer fremden, längst untergegangenen Welt. So wie es sich jetzt darstellt wirkt das Ensemble aus Kindertagen nicht nur monumental verschoben als Erinnerungsstück, sondern auch befremdlich wie geköpft, das Haupt brutal vom Rumpf getrennt. So bekommen einen Ausschnittcharakter, erscheinen als Fragmente, sind Versatzstücke einer unklaren, nur noch schemen- und ausschnitthaft weiter lebenden Wirklichkeit. Der Betrachter muss sie ergänzen, einbetten in ihren Spielzusammenhang einbetten in ihren historischen Kontext, dabei lagert er ihnen subjektive, individuelle Assoziationen an, rückt sie in die heutige Zeit, in unseren heutigen Wahrnehmungszusammenhang. Das Holz und dessen Verarbeitung verleiht ihnen vergröberte Züge und doch ist alles real an ihnen.

In dem großen Ensemble „Die Stube“ deuten wenige Attribute auf konkrete Räumlichkeit nur hin. Die Figuren bringen ihre Lebenswelt praktisch mit. Der Titel lässt Wärme und Heimeligkeit assoziieren. Allerdings transportiert er auch die Skepsis mit, die sich gegenüber hermetischer Häuslichkeit allgemein etabliert hat. Die Familienaufstellung wirkt wie ein Familienfoto, steif und gezwungen. Das Material scheint Programm, die Protagonisten kommen hölzern daher. Das Elternpaar steht wie ein schützender Schirm hinter den Kindern. Eine Formation, die Rollenzuweisungen und Funktionen bedient. Sichtbaren Kontakt untereinander nehmen die vier nicht auf. Was sie verbindet, ist ihre uniform statische Haltung. Sie teilen ein Schicksal. Sie erscheinen ausgestellt, mehr als plastisches Abziehbild einer Lebensform, hingestellt und irgendwie auch abgestellt. Und wie im richtigen Familienporträt wissen sie kaum, wohin mit den Armen. Von oben nach unten sind die Figuren immer weniger ausgeformt. Wie angewurzelt stehen sie auf plumpen Beinen. Schockstarre, müde Sehnsucht, Erwartung? Vitalität sieht jedenfalls anders aus. Pulloveraufdrucke und -applikationen lesen sich wie Versatzstücke geborgter Identität. Diese Figuren sind imprägniert mit Vergangenheit und Sehnsucht. Ihre Identität scheint sich aus Erwartung zu speisen. Sie scheinen gelähmt und hypnotisiert von Vergangenheit und Zukunft. Deshalb besitzen sie keine Gegenwart, keine Präsenz, die den Raum belebt. Der Kunstraum wird von den Plastiken eher still gestellt, die Figuren, für die sie stehen, dürften auch ihren Lebensraum nicht füllen und bewegen. Sie scheinen darauf zu warten, dass etwas mit ihnen geschieht.
Osianders Protagonisten sind keine Akteure, sie tragen vielmehr Spuren. Es sind die Spuren des bildhauerischen Arbeitsprozesses, aber auch Lebensspuren. Gerade aus ihrer reibungsvollen schwebenden Existenz zwischen Schilderung und skulpturaler Setzung beziehen sie ihre verstörende Energie und Kraft.

Nun zu Ilka Rautenstrauch: Ein Junge sitzt ruhig auf einem Hocker, die Füße in der Luft, die übergroßen Hände aufgestützt. Er erscheint in sich gekehrt und verschlossen. Fixiert er etwas im Raum oder geht sein Blick ins Leere? Worum kreisen seine Gedanken? Die Gesichtszüge sind fest und weich zugleich, sicher und sparsam. Der Junge scheint versunken und doch spürt man eine Spannung in seinem Körper, als sei er gerade dabei sich aufzurichten oder als befinde er sich auf dem Sprung, als sei er auf der Hut. Dynamik und Statik bilden einen energiereichen Kontrast. Die Spannung setzt sich fort in unserer Betrachtung der Figur. Wir können seinen Blick nicht einfangen, er schaut an uns vorbei. Dabei wirkt er ganz gegenwärtig. Er ist präsent und abwesend. Wir registrieren seine ausgeformte Körperlichkeit, dabei besitzt er eine fast immaterielle Zartheit.

Wir sehen den Gegensatz zwischen der fein gearbeiteten Körperoberfläche und dem groben Hocker, der den Feinschliff noch stärker empfinden lässt. Die Haut ist verblüffend glatt, fragil wie Porzellan in ihrer scheuen Blässe. Haut und Pose verbinden sich zu einer starken Stille, die uns selbst in eine kontemplative Haltung versetzt. Die Figur erscheint erhaben und stilisiert. Sie irritiert mit ihren anatomischen Verschiebungen. Sie erstaunt und fasziniert in ihrer rätselhaften Künstlichkeit und doch wirkt der Junge auch ganz real in Haltung und Ausdruck, mit seinen realistisch ausgeformten Schuhen, dem fein gelegten Haar und den natürlich wirkenden Knien, über denen sich die Haut in der Beugung spannt.

Ilka Rautenstrauchs Figuren kommen uns auf eine berührende Weise nahe, bewegen uns in ihrer Stille, lassen uns in ihrer festen und gleichzeitig zurückgenommenen Selbstgenügsamkeit allein mit unseren Fragen und Vermutungen. Sie erscheinen uns fremd und doch wirken ihre Haltung und ihr Ausdruck vertraut. So oder ähnlich ist uns vielleicht schon mal ein Mensch begegnet, aber erst indem er zum kunstvollen Bild wird, registrieren wir seine Eigenarten und Besonderheiten. Diese Figuren sind zugleich Porträt und Prototyp, individuell und allgemein, eine merkwürdige Spezies mit einer seltsamen Exotik, obwohl sie alle unsere Merkmale trägt. Verfremdet, um uns darüber nachdenken zu lassen, was ihr Menschsein eigentlich ausmacht und wo es beginnt, so einzig und allein und so einsam wie sie wirken. Und sie lassen uns darauf schauen und darüber nachdenken, was den menschlichen Körper kennzeichnet, dessen faszinierende Einmaligkeit, die ihrem Träger Persönlichkeit verleiht und die uns doch alle in ihrer Mischung aus Schutzlosigkeit und Darbietung, aus Verhüllen und Verbergen vereint.

Die Künstlerin bearbeitet das Holz in einer verblüffenden Weise, es tritt uns leiblich gegenüber, nicht in fleischlicher Körperlichkeit, sondern empfindlich und empfindsam, wie durchlässig und durchlichtet, sakralen mittelalterlichen Figuren ähnlich, die in ihrer Aura erstrahlen, als wären sie schon in eine vergeistigte Sphäre gehoben.

Doch Ilka Rautenstrauchs Figuren sind auch ganz erdnah, ruhen auch im Material, dem organischen Holz, das ihnen eine stille innere Lebendigkeit einpflanzt, wachsen aus dem Werkprozess, indem minimale Formungen eine maximale Ausdruckskraft hervorbringen, die sich nicht vollends kontrollieren lässt. Die Figuren führen ihr stilles, zurückgezogenes Eigenleben und wecken in uns eine sorgsame Hinwendung, die ihre individuelle Leiblichkeit als ein schützenswertes Gut anerkennt, die uns Grenzen und Schnittmengen körperlicher Begegnung deutlicher macht. Was sagen uns die anatomischen Besonderheiten, die tief angesetzten Ohren, die großen Gliedmaßen, die einzelne Brust?

Sie markieren Eigenart, rufen uns auf Besonderheiten zuzulassen, sie fordern heraus die Körperformen, denen die Künstlerin mit spezifisch formalem Interesse am menschlichen Körper aufmerksam und respektvoll nachspürt, als Selbstverständlichkeiten anzuerkennen. Wir könnten uns mit unserer angefachten und zurückgewiesenen Neugier am Körperlichen zu vorurteilsloser Empathie aufschwingen, indem wir nicht zuletzt den kunstvollen Bau der Menschenwesen bewundern, zu dem die Bildhauerin in ihrer speziellen, zugleich historischen und ganz gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Holz gelangt ist.

Nun zur letzten Position: Auch in Lothar Serusets Werk aus Skulpturen und Holzdrucken steht der Mensch im Mittelpunkt, buchstäblich, in mehrfacher Hinsicht und in schillernder Weise. Seruset lässt den Menschen zumeist aufrecht posieren, komplette Figuren, in Säulenform, so treten sie dem Betrachter gegenüber, farbig gefasst, in standfester Frontalität, eingebunden in Attribute. Der aufrechte Gang weist den Menschen als vermeintliches Spitzenprodukt der Evolution aus. Aber ist er auch innerlich gewachsen, befindet er sich auch geistig, moralisch auf der Höhe? Der Mensch bekommt bei Seruset häufig einen Soloauftritt ohne flankierende Artgenossen, ohne Gruppenbindung und -bildung. Das lässt ihn schicksalhaft in seiner existentiellen Rolle auftreten, mit den Herausforderungen an das einsame Individuum. Dennoch steht er uns nicht allein gegenüber. Er führt Dinge mit sich, tritt zusammen mit Tieren auf, trägt Natur oder Architektur auf dem Kopf oder in den Händen, ist damit eingebunden in allegorische Zusammenhänge, in Sinnbilder mit mehreren Bedeutungsebenen, die nicht einförmig zu lesen sind, sondern offen bleiben in ihrer Symbolik.

So trägt ein Mann mit einer Krone auf dem Kopf einen Fisch in der Hand vor seinem Körper, er scheint trotz majestätischer Zeichen ein wenig verlegen, vielleicht sogar überfordert mit seinem Fang oder seiner Gabe, ein ruhiges starkes Bild mit vielschichtig sprechenden Zeichen. Wer hat den Menschen gekrönt? Hat er sich selbst zum Regenten über die Tierwelt oder gleich die ganze Welt, über Erde und Meere aufgeschwungen, wie es ihm die Bibel aufträgt? Weist ihn allein das Geschenk des Lebens als König aus? Oder ist der Fisch als Erkennungszeichen des Christentums zu lesen, lebt der mit universeller Verantwortung beauftragte König also seine Religion in der Gemeinschaft mit allen Lebewesen? Steht der Fisch für die Grundspeise des Menschen? Oder lässt sich die Allegorie auch als Verweis auf den Raubbau der sogenannten zivilisierten Welt an den Ozeanen deuten? Seruset hält den Bedeutungs- und Assoziationshorizont weit, seine Skulptur in ihrem Werkstoff und in ihrer Form wirkt archaisch, ganz ursprünglich, wurzelt in alten Erzählungen und Mythen und berührt doch ganz gegenwärtig.

Dass der Mensch bei Seruset im Mittelpunkt steht, auch formal als Zentrum des skulpturalen Aufbaus, impliziert, dass er eingebunden ist in einen Daseinszusammenhang, in Räume und Zeiten, dass er zwischen anderen Lebewesen und Daseinsweisen steht, dass er einen Ort in einem größeren Kosmos besetzt. Der Bildhauer reicht die Frage an uns weiter: Wie nimmt der Mensch diesen Platz ein: souverän oder labil, getrieben oder souverän, verantwortungsvoll oder fahrlässig? Häufig erscheinen die Protagonisten, die zwischen Akteur und Schicksalsträger oszillieren, bedrängt in diesem Kosmos, eingepfercht, tendenziell überfordert mit ihren Lasten, auf schwankenden Böden oder förmlich attackiert von den Dingen um sie herum. Allein und aufrecht könnte er als Höhepunkt der Schöpfung wirken, aber obwohl seine Position auf großen Füßen sicher steht, erscheint sein Stand doch prekär, seine stille und starre Statik schwankend. Er tritt meist mit nackten Füßen auf, er wirkt wie ein Zeitgenosse und scheint doch auch aus der Zeit gefallen, er ist klobig, plump, mit groben und großen Gliedmaßen, mit kantigen unbewegten Gesichtszügen. Das lässt ihn zupackend wirken, eher körperlich als geistig, irgendwo auf einer frühen Entwicklungsstufe, eher ein bäuerischer Mensch oder ein handwerklicher homo faber. Zusammen mit der Anmutung des grob behandelten Werkstoffs Holz wirkt er eher vorzivilisatorisch, das rückt Serusets Figuren in die Nähe von Kultgegenständen oder frühen sakralen Idolen.

Auf Totenköpfen stehend und Totenschädel auf dem eigenen Kopf tragend, ist der Mensch eingebunden in den ewigen Zyklus von Vergehen und Werden. Zugleich ist der Bronze-Skulptur anzusehen, dass der Mensch schwer an dieser Last trägt, dass er die Menge des Todes auf seinem Haupt kaum zu schultern vermag, denn wie lebt es sich zwischen allzeit präsenten Gebeinen, wie viele Menschen liegen hinter ihm, wie viele werden ihm in diesem Schicksal folgen? In welchem Verhältnis steht die Zahl der Toten zu der der Lebenden. Wie steht es sich auf den vielen Schädeln? Sind sie zivilisatorischer Humus oder Bürde? Sie könnten eine Chiffre für historische menschliche Gedankenleistung und damit fruchtbare Tradition sein oder einfach ein Beleg für die Endlichkeit des Fleisches und damit auch für die Relativität des geistigen Vermögens. Wir könnten sie als eine Relativierung der Individualität verstehen, da sie als pure Knochen wenig von vermeintlicher Einzigartigkeit verraten. Drückt diese Last den Menschen, wirft ihn der kippelige Knochenhaufen nicht aus seiner erhabenen Vertikalität? Oder lässt ihn der Anblick oder besser das Bewusstsein der Toten um ihn herum demütiger werden, vielleicht sogar ruhiger, weil sich ihm mit dem Tod die Freisetzung aus allen irdischen existentiellen Lasten andeutet?

In dieser Ausstellung sind bildhauerische Positionen versammelt, die uns in bezwingender Weise körperhaft ansprechen. An keiner können wir ungerührt vorbeisehen und unbetroffen vorbeigehen. Wir bleiben vor ihnen stehen, weil sie unseren Blick erwidern, weil sie uns das menschliche Dasein in seiner Form und in seinem Wesen stofflich direkt und bildlich vermittelt vor Augen halten. So wie wir sie umrunden, umkreisen sie die menschliche Figur in deren anmutigem Potenzial, aber auch in deren leiblicher Wirklichkeit von vielen Seiten. Wir sehen uns mit der Individualität des anderen konfrontiert und zugleich mit unserem eigenen subjektiven Blick. Wir verfangen uns in unseren vorgefertigten Bildern oder lernen uns im Angesicht dieser Figurationen in unserer Wahrnehmung selbst neu kennen, fühlen uns angezogen und irritiert, begeistert und erstaunt. Nicht zuletzt führen uns diese eminent materialkräftigen Positionen Bilder vor Augen, die uns über das immer neu aufgegebene Rätsel des Menschen in seiner Lebenswelt und seinem Miteinander nachdenken lassen. Über ästhetische Verschiebungen zur Wirklichkeit gelangen wir in einen aufmerksamen Betrachtungsmodus, der uns Eindrücke liefert, die über unsere Alltagsbetrachtung hinausgehen, die uns aber doch in der Lebenswirklichkeit ankommen lassen. Kein l‘art pour l‘art trotz hoher ästhetischer Ambition zeigt sich hier. Vielmehr werden wir durch die formalen Zuspitzungen mit dem wahrhaftigen Leben umso intensiver konfrontiert. Indem die Holzbildhauerei uns das Menschliche zuspitzt und schärft, Arbeitsspuren ebenso wie Daseinsfurchen zeigt, indem sie Kanten und Ecken ebenso so weiche Rundungen ausstellt, Modelle präsentiert, Miniaturen und Monumentalisierungen bietet, indem sie aufraut und glättet, rückt sie uns das Wesen des Daseins in all seinen Brüchen und Rissen, in all seinen Höhen und Tiefen näher. So fest und standhaft und manchmal starr das Holz anmutet, so dynamisch ist es doch in seinem Wesen, organisch wie der Körper, den es darstellt, mit einer individuellen Geschichte und zugleich universell, gezeichnet mit Kerben, Scharten und Malen, lebendig fließend, zum Körper geronnene und verdichtete Zeit, so wie unsere Existenz selbst.