Dr. Arie Hartog: Katalogtext "Die Stube"

Dr. Arie Hartog, Gerhard-Marcks-Haus, Bremen: Katalogtext „Die Stube“

Ist der Begriff Stube „ironisch“? Die Figuren von Reinhard Osiander stehen oder sitzen steif nebeneinander ohne zwischenmenschlichen Kontakt. Sie gehören zusammen, weil sie zusammengestellt wurden. Die Stube als der Kern eines traditionellen europäischen Haushalts, wo man sich gegenseitig wärmte, ist hier weit weg. Sind es umgekehrt Sinnbilder einer existenziellen Einsamkeit? Wohl kaum. Osianders Figuren erwarten keine Empathie. Sein Werk zeigt Situationen aus der Realität, umgesetzt in eine bildhauerische Welt, in der diese Realität ihre Bedeutung verloren hat.

Eine der zentralen Ideen in der neueren Kunstbetrachtung ist die Frage, wie ein Kunstwerk mit der Aufmerksamkeit eines Betrachters umgeht. Das mag wie ein Anthropomorphismus erscheinen, etwa wenn der amerikanische Theoretiker W. J. T. Mitchell danach fragt „what do pictures want“, aber es gibt eine Antwort darauf, die zum Kern der modernen Kunst führt: „nothing“. Natürlich spekuliert alle bildende Kunst auf Publikum, aber die Frage ist, ob ein Werk sich gezielt auf Betrachter ausrichtet und um Aufmerksamkeit buhlt, oder ob es in sich versunken erscheint. Die erstgenannte Methode ist die des Mainstreams: Kunst, die sich auf das Niveau der Veranstaltungshallencomedy herablässt und sagt: „Hallo Betrachter, geht es Dir gut“. Die andere Kunst dagegen – wozu auch die des Reinhard Osiander gerechnet werden sollte – erlaubt dem Betrachter zwar einen Zugang, konfrontiert ihn aber gleichzeitig mit einer unüberbrückbaren Distanz. Osianders Werke sind stur und verschlossen. Betrachter empfinden nicht, als befänden sie sich in einer Situation zusammen mit ihnen. Und das, obwohl der Künstler auf den ersten Blick eine nette, freundliche Form der figürlichen Bildhauerei schafft. Dieses Werk trägt Widersprüche in sich – und zeigt sie.

Bestimmend für die Wirkung dieser Skulpturen ist neben der Distanz ihre besondere Erscheinung, in der unterschiedliche Bearbeitungsmethoden gleichwertig nebeneinander existieren. Die detaillierte Ausarbeitung einzelner Elemente betont die rauhen und grobgeschnitzten Teile, genauso wie farbige und unbemalte Teile sich kontrastieren. Die einzelnen Arbeiten verstoßen gegen das Gesetz der Einheitlichkeit, das sich aus dem Akademismus in die heutige Holzplastik gerettet hat. Osiander widersetzt sich der Mode, Holzplastik auf die bloße Darstellung von etwas in Holz zu reduzieren, wobei es letztendlich egal ist, ob Giraffe, Mensch oder Nashorn. Bei aller Distanz: In Osianders Welt ist nicht alles gleich. In diesen Skulpturen zeigen sich die plastische Vielfalt des Materials und die sich daraus ergebende mögliche Ordnung. Für Osiander sind plastische Elemente unterschiedlicher Qualität die Bausteine, aus der er seine Bilder baut. Sein Anliegen ist also nicht die Einheit des „gebildhauerten“ Kunstwerkes, sondern die des daraus ent​stehenden Gesamtbildes.