Nicole Büsing und Heiko Klaas: Die Ambivalenz der Idylle
Wie schiffbrüchige Kinder, die sich auf wankende Eisschollen gerettet haben, stehen sie da. Dick eingepackt in eine schwer definierbare Mischung aus Overall und Raumanzug. Handschuhe, schwere Stiefel, Helme und Kapuzen. Zwei der fünf Figuren haben eine Hand zum Winken erhoben. Fast so, als wollten sie ein vorbeifahrendes Schiff auf ihre missliche Lage aufmerksam machen. Die anderen stehen eher passiv oder resigniert da.
Reinhard Osianders „Rabauken“ (S. 54-55) entstanden 2014. Wie alle seine Figuren bilden sie die Realität nicht naturalistisch oder mimetisch ab. Vielmehr handelt es sich um vereinfachte, auf Grundelemente reduzierte Darstellungen, die von einer gewissen Unförmigkeit charakterisiert sind. Seine bemalten Figuren sind kantig, die Oberflächen meist rau gehalten. Die fünfteilige Figurengruppe, zusammengesetzt aus bemaltem Pappel- und Lindenholz, strahlt etwas Theatralisches aus. Man fühlt sich an die ersten Sätze aus dem Stück „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“ des Dramatikers Heiner Müller (1929-1995) erinnert: „See bei Strausberg Verkommenes Ufer Spur Flachstirniger Argonauten Schilfborsten Totes Geäst DIESER BAUM WIRD MICH NICHT ÜBERWACHSEN Fischleichen Glänzen im Schlamm.“*
Die „Rabauken“ repräsentieren einen von drei Werkaspekten, die sich bei Reinhard Osiander finden lassen. Eine Gruppe von installativ arrangierten Skulpturen erscheint hier als präsente und unverrückbare materielle Form im Raum. Sie kann vom Betrachter umrundet werden, es gibt eine Vielzahl möglicher Ansichten und keinerlei festgelegte Blickrichtung. Ähnliches gilt auch für seine frei stehenden Einzelskulpturen, die Repräsentationen unserer täglichen Gegenwart, etwa in Form einer jungen Mutter, die ihr Kind auf dem Arm hält, („Karo“ 2009), ebenso umfassen wie narrativ besetztere Sujets, etwa aus der Welt der Commedia dell’arte („Harlekin“ 2009) oder symbolisch besetzte Helden der Populärkultur (vgl. „Cowboy“ S. 25).
Ganz anders das Vorgehen bei seinen Reliefs, die wie Gemälde oder Fotografien an der Wand hängen. Hier gibt es eine klar definierte Ansicht und einen idealen Betrachterstandpunkt. Einen dritten, ganz eigenen Charakter haben seine Kleinplastiken, meist in Form von Tieren, die aufgrund ihres handlichen Formats nicht an einen spezifischen Ort gebunden sind und darüber hinaus dazu einladen haptisch erfahren zu werden. Es gibt aber auch hybride, installative Anordnungen. Die 2011 entstandene zweiteilige Arbeit „Waldstück“ (S. 31) etwa zeigt die Figur eines stehenden Jagdgehilfen und hinter ihm an der Wand einen jungen Sechsender-Hirsch als Relief.
Inspirationen für seine Arbeit findet Reinhard Osiander unter anderem auf Flohmärkten: alte Postkarten, ein Textilbild von der Zugspitze, Votivtafeln aus Altötting, Cowboyfiguren und anderes Spielzeug. Ebenso benutzt er eigene Fotos. So entstand etwa die Wandarbeit „Bootsverleih“ (S. 21) auf der Grundlage einer Aufnahme, die einen Bootsverleih am Spitzingsee zeigt. Quellenmaterial wie dieses bildet oft den ersten Ausgangspunkt für eine neue bildhauerische Arbeit. Dabei werden die gefundenen Ausgangsmotive aber keineswegs 1:1 übertragen. Reinhard Osiander arbeitet mit Brechungen von gängigen Klischees zu den Themen Heimat, Familie, Kindheit und Idyll. Die siebenteilige Arbeit „Die Stube“ (S. 8) stellt das Thema Kleinfamilie in all seiner Ambivalenz und Brüchigkeit dar. Dem stehenden Elternpaar zugesellt sind ein Junge und ein Mädchen. Dazu kommen eine sitzende Hauskatze, ein bunter Ball und ein Spielzeug-Pick-up. Idealisierten Konstellationen dieser Art begegnet der moderne Großstadtmensch fast nur noch auf Anzeigenmotiven von Immobilienmaklern, Versicherungen oder Modelabels à la Tommy Hilfiger. Indem Reinhard Osiander sie klischeehaft und scheinbar bruchlos nachbildet, bringt er den Betrachter zum Nachdenken über den Mangel an emotionaler Interaktion zwischen den Figuren. Jeder scheint hier nur noch eine festgelegte Rolle zu spielen – dargestellt ist eher ein interesseloses Nebeneinander als ein auf Empathie und Bindung beruhendes familiäres Miteinander.
Holz ist neben Stein und Metall eines der ältesten künstlerischen Materialien. Allerdings war es immer wieder wechselhaften Konjunkturen unterworfen. Einer großen Anerkennung und Beliebtheit im Spätmittelalter – Tilman Riemenschneider mag hier als wichtigster Repräsentant für eine auf „Holzsichtigkeit“ hin angelegte Ästhetik im deutschsprachigen Raum angeführt werden – folgte in späteren Jahrhunderten die weitgehende Überformung des Materials durch versiegelnde Bemalungen oder das Hinzufügen textiler Elemente. Ab dem 18. Jahrhundert besann man sich zunächst wieder auf klassische, aus der Antike überlieferte Werkstoffe wie Marmor, Gips und Bronze. Erst mit Paul Gauguin (1848-1903) und der Südseebegeisterung der frühen Moderne wendete sich das Blatt. Pablo Picasso, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Ernst Barlach und später Georg Baselitz oder Stephan Balkenhol entdeckten die Evidenz des bodenständigen Naturwerkstoffs für ihre Arbeit. Schon Constantin Brancusi bemerkte 1927: „Nebenbei gesagt kann man (als Bildhauer) nicht einfach machen, was man will, sondern nur, was das Material auch erlaubt. So kann man aus Marmor nicht das Gleiche schaffen wie aus Holz oder Stein. Jedes Material hat sein eigenes Leben, und man darf nicht straflos ein lebendiges Material zerstören, um daraus einen stumpfen und sinnlosen Gegenstand zu machen. Daher sollten wir nicht versuchen, den Materialien unsere Sprache aufzudrängen, sondern vielmehr mit ihnen gemeinsam einen Weg beschreiten, der auch andere zu einem Verständnis ihrer Sprache führt.“**
Dieser ästhetischen Herausforderung, eben die ganz spezifischen Materialeigenschaften seines bevorzugten Rohstoffs Holz zum Sprechen zu bringen, stellt sich Reinhard Osiander Tag für Tag. In seinen Arbeiten begegnet uns Holz als das, was es ist: Holz. Auch wenn er es mit farbigen Lasuren sensibel koloriert, so bleibt doch immer der Materialcharakter erhalten. Er bearbeitet Holz mit ganz unterschiedlichen Techniken: Er richtet es mit der Motorsäge grob zu, benutzt aber auch die klassischen Werkzeuge des Bildhauers wie Axt, Beitel oder Schnitzmesser. Manche Partien belässt er in ihrer eher groben und rohen Oberflächlichkeit. Andere, oft sind es die Gesichter seiner Figuren, arbeitet er wesentlich präziser und glatter aus. So kommt es, dass in den verschiedenen Teilen ein und derselben Skulptur ganz unterschiedliche Stadien der Ausarbeitung ablesbar sind. Osiander benutzt substrahierende Verfahren ebenso wie additive. So bestehen viele seiner größeren Figuren und Wandreliefs aus kleinteiligen, unmittelbar der Natur entnommenen Holzelementen, die behutsam konstruierend und der Intuition folgend zu einem Ganzen zusammengefügt werden und so am Ende ein einheitliches Bild ergeben.
Der Prozess des Farbauftrags vollendet die bildhauerische Arbeit. Reinhard Osiander trägt Farbe aus selbst angerührten Pigmenten in mehreren Schichten auf und schleift sie mehrmals wieder ab. So entsteht ein Wechselspiel zwischen einem malerischen Prozess und einer bildhauerischen Antwort. Der aus dem Stamm geschnitzten, homogenen Skulptur setzt er etwa bei den Wandreliefs „Klamm“ (S. 51) und „Spitzingsee“ (S. 44) ein aus vielen heterogenen Bauteilen entstehendes, von Holzdübeln zusammengehaltenes Ensemble entgegen. In wesentlich monumentalerer Form setzt Osiander dieses additive Verfahren bei der Arbeit „Höhle“ (S. 16-17) um. Aus dicken Stämmen, Blumenintarsien, natürlich gewachsenen Ästen und geschnitzten Elementen hat er eine selbst gebaute Höhle nachgeformt, die auf kindliche Versteckspiele verweist.
Ob lebens- oder überlebensgross oder aber als Kleinplastiken, kommen sie nicht bis ins kleinste anatomische Detail ausgefeilt, aber dafür umso charaktervoller daher. Daneben tauchen aber auch überraschende, aus der Reihe fallende Motive auf. Zum Beispiel das im Maßstab stark vergrößerte Remake „Kriegsschiff“ (S. 56-57), dessen Vorlage ein kantiges, graues Schiffsmodell vom Flohmarkt lieferte. Diese Fregatte wirkt keineswegs martialisch, sondern eher wie ein Sammlerstück für Liebhaber des Maritimen.
Banale Fundstücke, Alte Meister im Museum, aber gelegentlich auch die Landschaftsbilder des britischen Malers Peter Doig regen Reinhard Osiander an, einen weiten Bogen zu spannen zwischen der Profanität des Alltags und den unterschiedlichsten Varianten einer künstlerischen Verdichtung. Existenzielle Themen, die Verwurzelung in der landschaftlichen Umgebung sowie die Verortung in einem heimatlichen Gefüge, das jedoch durchaus kritisch hinterfragt werden kann, treiben ihn an. So übersetzt er etwa in der Arbeit „Schneeferner“ (S. 12-13) das Motiv eines Fundstückes (S. 10), welches eine Urlauberfamilie, Vater, Mutter und Kind, beim Wandern vor der Kulisse eines Gletschers zeigt, in eine Rauminstallation. Durch die nicht unironische Appropriation von Allerweltsmotiven wie diesem ruft Reinhard Osiander ein ganzes Bündel von Fragen auf.
Gibt es die hier dargestellte „Heile Welt“ heute noch? Hat es sie je gegeben? Und wenn ja, warum haben wir uns aus ihr vertreiben lassen?